Donnerstag, 8. Juni 2023

Vom geistigen Pfingstfeuer

Das Wort von der Zeitenwende tickt nicht erst seit den Tagen nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine in vielerlei Nachrichten um die Welt. Es ist unter den Menschen hintergründig präsent mindestens seit der Mensch in seinem individuell werdenden Denken sich unmittelbarer zu emanzipieren begann. Wer diesem Zeitenwende-Phänomen tiefer erlebend näher treten will kann dies schon in dem Verhältnis von Aristoteles und Platon nach dessen fluchtartiger Rückkehr von seiner letzter Syrakus Reise identifizieren. Weniger als historisch dokumentiertem Tatbestand, sondern der Möglichkeit nach als geistig erlebbar zu erweckenden Tatumstand in dem weiteren  Lebensumgang der beiden nach dieser Reise. 

Aristoteles verlies bald danach Athen. Mehr äusserlich betrachtet wird das historisch gesehen als Folge der wachsenden Spannungen von Athen gegenüber Mazedonien, der Heimat des Aristoteles angesehen. Wer tiefer hinschauen will kann in diesem Umstand die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu überbrückende Differenz der beiden was ihre Denkweise betrifft ausmachen. Realismus versus Idealismus im Denken oder anders ausgedrückt die Umkehrung der Deutung des Höhlengleichnisses von Platon durch Aristoteles. Aristoteles sieht in dem Wieder-Hinabstieg in die Höhle die letztendlich mögliche Vollendung der Befreiung des Menschen von jedweden Fesseln, für Platon hingegen ist diese Befreiung bereits erfüllt in dem Ausstieg aus der Höhle, hinein in die Ideenschau, das Sonnenlicht im Geiste. 

Aristoteles stand eine völlige Neuordnung des Verhältnisses von Physis und Logos im zu erfahrenden Denken vor Augen. Keimhaft im Ansatz, denn das Denken, sprich das Erkenne Dich selbst im Denken zu verorten, Anschauung werden zu lassen ist hintergründig besonnt sein Ansinnen in allem was sich um den Aktus dreht. Denken als tatsächlichen fortwährend zu aktualisierenden Willensprozess zu veranschaulichen. Oder anders ausgedrückt fragend durch das Niemandsland des „ich weiss, dass ich nicht weis“ bis auf den Grund des Erwachens für die Wirklichkeitsbildung im Denken hindurch zu gehen und anschaulich im willentlichen Denkvollzug zu dokumentieren, das war tiefer betrachtet seine Erkenntnisperspektive. Hier unterschied er sich von Platon und sah sich demzufolge vor die Entscheidung gestellt seinen eigenen Wege zu gehen, was bedeutete sich von Plato und seiner Denkweise deutlich abzusetzen. 

Idealistische Ideenschau versus fortlaufend realaktualisierte Peripatetik im Denken. Der innere Dreischritt - GEHEN, SPRECHEN, DENKEN - als selbstverantwortlich gestalteter Willensprozess war und ist das bis heute unvollendet gebliebene Zeitenwende Vermächtnis des Aristoteles.

In welcher Beziehung steht dieses nun zu dem oben benannten Titel dieses Essays? Geistiges Pfingstfeuer als Ereignis des Erwachens am anderen Menschen und … wie ich hier ergänzend hinzufügen will, die Überwindung der Furcht im Durchgang durch das Niemandsland im Fragen bis auf den Grund. Im Fragen auf das Erwachen des individuellen Denk-Augenblicks im eigenen Denken hin. Erwachen in das „tatsächlich“ immer umfänglicher willentlich geführte Denken, das Denken in unmittelbarer Tat-Einheit mit sich selbst. 

Die Quell-Dohle von der aus dieses Pfingstfeuer von Augenblick zu Augenblick sich immer tiefer erfahren liesse ist das Du des jeweilig anderen Menschen. Denn im Spiegel des Du kann ich erinnernd erfahren wer ich im eigentlichen Sinne des Wortes bin. Am sich mir mitteilenden Du kann, sofern ich meinerseits mich in der Anschauung ohne jedwede Urteilsabschweifung, sprich prolongierte Selbsttäuschung mir selbst gegenüber, bzw. im Rückhalt von Urteilsübertragungen auf das Du hin zu halten weis, ich mich als den der ich in meiner schöpferischen Willensgestalt bin nach und nach von innen her immer besser ausrichten. Das innere Feuer zur aktiven Selbstverwandlung erwacht und nimmt gemäss der eigenen Bereitschaft zur Wandlung in fortlaufenden Du Begegnungen Fahrt auf.

Das Ich ist allein dem verantwortlich, was aus dem wachsenden Erinnern sich kundgibt. Und mit dem was von dort her mit allen weiteren Konsequenzen in seine Hände gelegt wird, ist es von seinem inneren Wahrnehmen her immer unabweisbarer angehalten die Gebärmutterhülle des Ego zu verlassen. Angstfrei, denn aus dem Denken kann ich nicht herausfallen, ich kann nur immer und immer wieder den Einstieg in seine Tiefen verweigern - aus Angst. Insofern ist der Kern von Zeitenwende, dass ich die Verantwortung für dieses mein Denken ohne wenn und aber übernehme. Nicht also der Selbsttäuschung von Verschwörungen jedweder Art verfalle, sondern meinerseits alles bis auf den Grund hin hinterfrage. Das Selbsterkennen erinnernd annehme und in Taten umsetze.

Von Pfingsten her weht der Wind zur eigenständigen Selbstverwandlung im Denken gemäss meinem Erinnern und Besinnen wie es durch das Du meines Schicksalsumfeldes an mich herangetragen wird. Konkret gesagt: Ich kann mich hinfort nicht mehr meiner Selbstverantwortung entziehen deutlicher meine Zeitenwende Verantwortung in die Hand zu nehmen. Und … hier zu tun was immer wenn auch nur im Kleinen mir möglich ist. Von Zeitenwende nur zu reden ist ein Unding. Die Zeitenwende durch andere zu erwarten ebenso. Zeitenwende vollzieht sich als weitreichende soziale Verantwortung und kann vom Grunde her nicht umgangen werden.

Über das Denken ist nicht erst seit heute alles mit Allem in subtilen Wirkverhältnissen untereinander verbunden und aufeinander bezogen. Der Unterschied zu früheren Zeiten ist der, dass die Verantwortung des Einzelnen heute eine viel viel grössere ist. Zeitung lesend am Weltgeschehen Anteil zu nehmen ohne täglich aktiv meinen eigenen Selbsterkenntnis Acker zu bestellen ist nicht mehr ausreichend in einer Zeit da die Chaos Kräfte unmittelbar vor der eigenen Haustüre am Wirken sind.

Demzufolge ist es buchstäblich auch naiv zu glauben mit militärischen Mitteln den Ukraine Konflikt bewältigen zu können. Es ist aber ebenso geradezu hirnrissig per wie auch immer gearteter Appellation Frieden anmahnen oder herbei reden zu können. Wenn seit dem durch Putin autorisierten Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine von Zeitenwende gesprochen wird, so ist mit dieser Tatsache nur das Zeitenwende Phänomen, das durch die gesamte Geschichte ein zu jeder Zeit ablesbarer Entwicklungsfaktor war erneut aus dem Schatten in den Vordergrund getreten.

Aus dem Schatten: Putin muss Einhalt geboten werden. Aus seinem Handeln jedoch, von welcher Seite auch immer ein Böse-Buben Spiel zwischen Ost und West mit noch so griffigen Argumenten vermeintlich unwiderlegbar ausmachen zu wollen, das geht an den wirklichen Notwendigkeiten vorbei. Denn der Krieg um die Ukraine wirft ein nicht mehr beiseite zukehrendes Schlaglicht auf tiefere Wirkverhältnisse in diesem Konfliktfeld. Dieser Krieg ist kein Stellvertreterkrieg der Ukraine für Europa, er ist ein Krieg um das Bewusstsein des Menschen und dessen aktiv zu entfaltende Potenz darinnen - das Ich. Die Entfaltung des Ich kann erst wirksam werden mit dem Eingeständnis, was habe ich auf meinem individuellen Entwicklungsweg durch dieses mein Leben versäumt (?) an die Hand zu nehmen. Wo habe ich meinen zumeist eher verborgeneren Ego-Bedürfnissen immer wieder den Vorrang eingeräumt vor meinem stetig in grössere Tiefen hinein zu erweiternden Selbsterkenntnis-Prozess. Denn der tote ukrainische oder russische Soldat gerade heute am Donbas steht in einem unmittelbaren Wirkverhältnis damit. Es ist dies keine Frage von Schuld sondern von not-wendend aufzubauender und durchzuhaltender Wachheit im Umgang mit meinem Denken. Verantwortung die nicht auf andere übertragen werden kann. Denn ich bin mitverantwortlich für alles was immer in der Welt geschieht, ich bin Teil des welthaften Bewusstseinsprozesses.

© Bernhard Albrecht Hartmann, 08.06.2023


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