Dienstag, 25. Januar 2022

Mit den Augen des Falken ... (3)

Das Denken ist in der Erfahrung wirklich sehr schwer zu fassen, das habe ich gesagt. Der eine oder andere Leser wird mir aus seiner Sicht hier vorhalten, ich hätte bisher ausser einigen eher allgemeinen Hinweisen nicht gerade viel unternommen, was hilfreich sei um sich ihm annähern zu können. Das ist richtig, denn das Denken ist mit allen logischen Gesetzmässigkeiten, die seine inneres Gefüge modulieren etwas so individuelles, dass auch nur ein jeder auf seine ureigene Weise sich ihm nähern kann. Der Kommentar spricht davon, dass der Falkner sich in der Dunkelheit wie unsichtbar machen müsse, um das Vertrauen des Falken gewinnen zu können. 

Für das Denken stellt sich im Laufe der auf es ausgerichteten Untersuchungen immer deutlicher heraus, dass nur wer sich wie ein Jäger auf die Pirsch legt und gleichsam auf dem Hochstand innerer Beobachtungen in die gesteigerte Stille eines von innen her Beobachten sich begibt, der kann sich der Dimension annähern, die im eigentlichen Sinne dann nach und nach als die des Denken zu identifizieren sein wird. Der kann von seiner Seite auf ein Erfahren blicken, das als begründet angesehen werden kann und darf. 

Das Denken als eine  Dimension? Das Denken als ein eigenständiges inneres Kraftfeld - über die unterschiedlichen seelischen Erlebnisfelder mit ihren jeweiligen Erlebnismöglichkeiten hinausreichend - geht das nicht erheblich über das gängige Verständnis innerhalb der allermeisten sozialen Kommunikationsnetzwerke hinaus? Leben wir also im Sinne des sogenannten Gemischten Königs in Goethes „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“ in der gegenwärtigen Zeit in einer Art vielschichtig ineinander versetztem Panoptikum unserer seelisch-geistigen Welt- und Erfahrungsbezüge, weil wir im Denken den Zugriff auf unseren Willen verloren haben?

Den Willen. Jetzt wird es schwierig und ich weis, dass ich ihnen hier einiges zumute. Zumute in der Art, dass ich es wage sie heranzuführen, wenn sie denn innerlich mitgehen wollen an das Erfahren der eigenen inneren Nacht oder Dunkelheit.

Dunkelheit. Leeres Bewusstsein. Vorstellungsfreies Gewahren im Tasten in die eigene innere Stille hinein, die, seien wir ehrlich uns erschreckt, uns erschreckt wenn wir uns erstmals aktiv an diese innere Dimension herantasten, die uns erschreckt weil wir mit diesem Ansinnen so etwas wie den Boden unter unseren Füssen zu verlieren scheinen. Ja es kann sich auch zeigen wie ein momenthaftes Zusammenzucken, ein Riss durch unser Innerstes, ein schreckhafter Augenblick der Orientierungslosigkeit und in der Folge gleichsam so etwas wie ein inneres Um-Sich-Schlagen in dem Bemühen erneuter Landnahme. 

Die Welt die sich da gleichsam vor meinem inneren Auge auftut ist eine Welt, die uns herausfordert im Durchgang durch die Furcht furchtlos zu werden, das dynamische Stehvermögen - ähnlich dem Surfen auf Brandungswellen am Meer - in der Welt des Willens sich anzueignen. In der Welt, die dem eigentlichen Denken zu Grunde liegt übend beherrschen zu lernen. Doch ist das nicht eine sehr kühne Behauptung das Denken habe etwas mit dem Willen zu tun, mit der innerlich geführten Beherrschung des Willens. Der Ruf dies zu beweisen scheint also naheliegend zu sein. Doch dies hiesse das Pferd von hinten aufzuzäumen. Denn nicht ob ich das beweisen kann ist die eigentliche Frage, sondern ob sie die Leser bereit sind sich ohne wenn und aber der Frage zu stellen, weis ich was Denken ist oder weis ich, dass ich nicht weis, was Denken ist und von daher dann aus einer eigenen Entscheidung heraus den Weg der Selbsterkundung zu beschreiten. Und dies ist ein Weg, das muss hier mit aller Deutlichkeit bekundet werden, der sehr viel tiefer reicht als jener der folgerichtigen logischen Selbstreflexion.

Was ist Denken und was hat es mit dem Falken zu tun. Wer sich schon einmal etwas näher auf einen Falken eingelassen hat der weis, dass dessen Auge sehr mächtig auf einem zurück wirken kann. Dieses Auge blickt dich an und wenn du dich aus einer eher oberflächlichen Sinnesbegegnung heraus nicht schnell wieder abwendest, dann blicken diese Augen wie durch dich hindurch. Lehrer und Schüler in der alten Falken Schulung wussten ganz genau, dass der Falke eigentlich nicht zu zähmen ist. Sie wussten, dass es bei dem Umgang mit dem Falken allein darum ging zu lernen dem Blick des Falken zu begegnen und standzuhalten. Was heisst den eigenen Willen in den Griff zu bekommen. Der Berufung vom Knappen- in den Ritterstand ging in alten Zeiten die Falken Prüfung voraus. In dieser musste der Falken Lehrling in völliger Dunkelheit während zweier Tage und Nächte in der Nähe des Falken ausharren ohne dabei einzuschlafen. Der Falke war in seiner Art so unbestechlich, dass er innerhalb eines derartigen Ereignen nur auf die Schulter des Lehrlings überging, wenn dieser seine Willenskraft nicht einzuschlafen deutlich zeigte. Damit verbunden war in Folge das Recht den Falken im eigenen Wappen zu tragen. Ritter mit dem Falken in ihrem Wappen wiesen sich nach aussen hin dadurch aus, dass sie durch eine besondere Willensschulung gegangen waren.

Der Falke und das Denken. In welcher Beziehung stehen Denken und Wille zueinander. Das Denken ein inneres Blickorgan? Dies sind für die eigenständige innere Anschauung sicher keine ganz einfach zu klärenden Fragen. Aber es sind notwendige Fragen, wenn ich zu einem tatsächlichen Wissen, einer echten Erfahrung von dem vordringen will was Denken seiner ureigenen Konsistenz nach wirklich ist. Ich wage hier zu denken, dass wir Emanuel Kant unter einem ganz neuen Gesichtspunkt verstehen lernen könnten, wenn es uns denn gelänge mit dem Willen hinter dem sogenannte "Ding an sich" eine meditative Weile still im Dunkel zu verweilen. 

Das Ding an sich ist in meinen Augen nämlich eine stille Aufforderung zur Willensschulung im Vollzug eines zeitgemässen Eintritts in das Denken. Mir ist klar dass, indem ich diese Aussage hier mache ich mich dem Verdacht aussetze ich könnte beabsichtigen das gesamte heutige Kant Verständnis damit in Frage stellen zu wollen. Doch nichts steht mir ferner als dieses. Die Fähigkeit der abstrakten Gedankenführung wie sie durch Kant auf ihren unbestreitbaren Höhepunkt gebracht wurde ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Frage nach dem Willen im Denken nach und nach wieder in einem grösseren Umfang virulent werden kann. 

Rudolf Steiner hat zu seinen Lebzeiten mit seiner Philosophie der Freiheit eine Antwort gegeben wie der Wille im Denken erneut geweckt werden könne. Er ist damit über das Erschauern Emanuel Kants hinausgeschritten, das diesen erfasste - erfahrbar für Menschen die willens sind auf dieses verborgene biographische Momentum "meditativ" hinzuschauen - als dieser durch das Ding an sich wie von einem Berggipfel aus in einem Panoramaüberblick auf sein philosophisches Lebenswerk zurückblickte.

Und erschrak ob der Grösse der Aufgabe, die für ihn auf weiteren Wegen noch zu bewältigen gewesen wären. Dass Kant die Idee einer ersten Philosophie, wie er es ausdrückte letztlich nicht zu verwirklichen wusste, das hängt mit diesem seinem verborgenen Erschrecken und der Art seines ganz persönlichen Umgangs damit zusammen. Doch ich will und kann hier nicht mehr über die Hintergründe sagen. Somit steht bis heute diese nicht realisierte Idee von Kant vor unser aller Augen als eine Aufgabe die es zu ergreifen gilt.

© 25.01.2022 Bernhard Albrecht Hartmann