Freitag, 13. Dezember 2019

Der Dialog als Geburtsstätte der Bewusstseinsseele

Die Dialogkultur ist heute nicht selten von nichtssagenden und verschleppenden, um nicht zu sagen feindseligen Tendenzen geprägt. Der mutige Gedankenaustauch über Gegensätze hinaus, als Quelle möglichen Wachstums und innerer Reifung, scheint mir eher eine seltene Ausnahme zu sein. Einen Anstoss zu einem derartig offenen Dialog zu geben, war der Grundgedanke meines nachfolgend hier eingestellten Briefes.

Persönliche Stellungnahme zu dem Brief von 20 Mitgliedern des Dresdener Zweiges
an den Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach, sowie
der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland e.V., Stuttgart

Sehr geehrte Damen und Herren

Ich will Sie vorweg wissen lassen, ihr Brief ist, auf welchen Wegen auch immer, im Internet https://egoistenblog.blogspot.com/2019/11/lieber-anthroposophischer.html#disqus_thread aufgetaucht. Der Inhalt und der Stil des Briefes, wie auch der Umstand seines Auftauchens im Internet, alles zusammen hat eine wachsende Betroffenheit in mir ausgelöst.
Zusammengefasst will ich das wie folgt beschreiben:
Unabhängig von den Gründen, die sie zur Abfassung dieses Briefes veranlasst haben, frage ich mich, drückt sich in der Argumentationsführung und dem Stil dieses Briefes der Geist aus wie Rudolf Steiner Geisteswissenschaft vertreten sehen wollte? Geist Erinnern und Geist Besinnen bis in tiefere Schichten „des eigenen Seins-Zustandes  hinein?“
Wie steht es, lausche ich in Ihren Brief hinein, um ein dialogisch zu entwickelndes Freies Geistesleben? Wie steht es hierbei um die durchgehende Sachlichkeit und den unbedingten Respekt, gerade im Umgang mit gegensätzlichen Argumentationslinien, denn wird ein Freies Geistesleben nicht gerade durch den Stil wie miteinander in Gegensätzen umgegangen wird erst wirklich zu einem Freien Geistesleben? Wird dabei in zureichender Weise an die allseitige Aussenwirkung eigenen Verhaltens innerhalb von Prozessen des miteinander Sprechens gedacht, was „die öffentlich beispielhafte Vertretung“ von Geisteswissenschaft als eines fortlaufend hoch sensiblen wechselseitig zwischenmenschlichen Entwicklungsprozesses des Erwachens aneinander betrifft? Gehört dazu das an den Pranger stellen von Personen des anthroposophischen Lebens, bzw. das Einfordern von „Sündenbock Opfern“ und das an die Wände Malen von Feindbildern, wie das seit dem Ausschluss von Ita Wegmann und Elisabeth Vreede aus der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft immer wieder geschah? In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?
Haben wir in beinahe einhundert Jahren nach Rudolf Steiners Tod so wenig gelernt? Selbst das Mittelalter verfügte über eine höhere Disputationskultur, als diejenige, die ich hier im Hintergrund  dieses Briefes mit seinen halbseidenen Vorstellungen und auch Unterstellungen vermisse. Mit einer Wagenburg Mentalität ist eine „Bewusstseinsseelen Haltung“ als Vermächtnis Rudolf Steiners nicht zu verwirklichen.
Ich scheue mich nicht es ganz offen zu sagen: Es schmerzt mich, wenn ich sehe, dass die Sorge und die „Angst“ um die Anthroposophie in ihrem Brief ein grösseres Gewicht einnimmt als der  „Mut,“ der nachhaltige Mut für eine wirklich offene Auseinandersetzung. Die letzte öffentliche Ansprache Rudolf Steiners vom 28.09.1924 sehe ich in Ihrem Brief jedenfalls nicht widergespiegelt.
Hegen Sie wirklich die Auffassung die beiden Vorstandskollegien, an die Sie ihren Brief gerichtet haben, könnten die angesprochenen Probleme von ihrer jeweiligen Warte aus durch eine wie auch immer geartete eindeutige Aussage, wie Sie diese sich zu wünschen scheinen oder gar durch ein „Machtwort,“ lösen? Fehl gedacht. Was Not tut ist, dass sich unter den Mitgliedern dieser Gesellschaft eine Haltung innerer Wandlung ausbildet, der Metanoia-Geist in Dialogen in Erscheinung tritt und eine bisher in weiten Teilen tradierte „Vorstellung“ von Anthroposophie, die sie aus Ihrer Sicht hier anscheinend gerne verteidigt sähen, sich in einer authentischen Lebenshaltung einen individuell bewussteren und von daher mutig verantworteten Lebensausdruck sucht.
Anthroposophie ist keine Ideologie. Wo Menschen das lebendige Geistesgut der Anthroposophie aus ihrer Seelenhaltung heraus „unmerklich“ nach und nach so weit verformen, dass sich im Umgang mit Aussagen Rudolf Steiners innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft immer mehr dogmatische Deutungs-Strukturen Bahn brechen, dort tut sich in meinen Augen eine Bruchlinie zu dem durchgehenden Freiheitsgedanken im Lebenswerk Rudolf Steiners, und dem wie er diesen im Willen der Bewusstseinsseele verwirklicht sehen wollte, auf.
Dialog bedeutet folgerichtig ausgerichtet Suche, Suche, die das Bewusstsein eigener blinder Flecken mit einschliesst und von dort her Suche nach dem selbstverantwortlich zu vertretenden individuellen Geist Ausdruck. Menschen, die eine wirklich michaelische Dialogkultur repräsentieren wollen, suchen gerade in gegensätzlich verlaufenden Argumentationsprozessen unermüdlich den sachlichen Dialog, in dem sie immer wieder aufeinander zugehen — und halten an sich einem „scheinbar“ als Feind ausgemachten wissenschaftlichen Autor, bildhaft gesprochen wie Krähen die Augen auskratzen zu wollen.
Rudolf Steiner hat die Geisteswissenschaft, wie ich das sehe, als einen bewussten Impuls zur Vertiefung des Wissenschaftsverständnisses für die gegenwärtige Weltlage verstanden wissen wollen. Und das heisst, er betrachtete seine wesentlichen, aber dennoch keimhaft verbliebenen Aussagen dazu als erste Veranlagung einer Kehrtwende von einer auf das Aussen der Natur bezogenen exakten wissenschaftlichen Forschung hin zu einer nicht weniger notwendigen exakten Erforschung der inneren Bewusstseinsfelder des Menschen. Die Aufklärung der Renaissance, die der exakten Naturwissenschaft in die Spur verhalf, ist erst dann vollendet, wenn die Kehrtwende auf die geistigen Ebenen des Menschen, wie sie Rudolf Steiner programmatisch durch die seelischen Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode weiter bearbeitet sehen wollte, sich etabliert haben wird.
Es ist leicht aus einem Mix von eng geschürzten eigenen Vorstellungen (die im übrigen nach immer wieder geäusserten mahnenden Worten Rudolf Steiners verbrannt werden sollten) einen Menschen wie Christian Clement zum Gegner der Anthroposophie zu machen und anerkannte Vertreter wissenschaftlichen Denkens innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft wie Wolf Ulrich Klünker oder Jost Schieren, pointiert gesagt dem Verdacht der Toten-Gräberei anthroposophischen Wissenschaftsverständnisses auszusetzen — nur weil sie für einen offenen wissenschaftlichen Dialog eintreten.
Die Geschichte der Wissenschaft setzt sich aus einer Kette menschlicher Gegensätze zusammen und lief über diese Gegensätze oft sehr mühsam im Dialog auf eine Abstraktheit im Denken zu, welche die Entwicklung einer Geisteswissenschaft im Sinne Rudolf Steiners erst möglich machte. Mit anderen Worten, die abstrakte Klarheit im Denken war für Rudolf Steiner die Grundvoraussetzung, dass er das Bewusstsein für den Willen, der seit Aristoteles dem Denken mehr und mehr verloren gegangen war, wieder in das Denken hineinzuversetzen vermochte und von daher die Geisteswissenschaft begründen konnte. Kant wurde so für Rudolf Steiner zum wissenschaftlichen Eckpfeiler, der es ihm in Folge ermöglichte von der seelischen Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode im Gang durch seine Philosophie der Freiheit sprechen zu können.
Wollen Sie also wirklich die unleidliche Geschichte von Dialogabbrüchen und Dialogverweigerungen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft fortsetzen und das, wie ich das bisher Gesagte hiermit auf den Punkt bringen will, in dem Wissen, dass „allein“ durch Dialog, durch die immer wieder neue und auch schmerzhafte Begegnung von Ich und Du im wechselseitigen „Hinblicken Müssen“ auf eigene blinde Flecken die Bewusstseinsseele entwickelt, zu je individuellen Erfahrung werden kann? Wollen Sie den ruppigen Gastwirt von Bethlehem nach diesem Brief weiter ausspielen, der auf ein fragendes Anklopfen hin die Bewusstseinsseele auf der Suche nach Einkehr in winterlicher Kälte weiterziehen lässt?
An uns liegt es, den mit der Bewusstseinseele verbundenen Prozess der Willenserweckung im Erwachen am anderen Menschen aufzunehmen und weiter zu entwickeln, damit Geisteswissenschaft durch ihn immer deutlicher ihren zeitgemässen wissenschaftlichen Ausdruck finde. An uns liegt es, wieviel an Selbstkritik jeder Einzelne von uns dabei für sich immer wieder gegenüber dem Drang den schwarzen Peter beim jeweiligen Dialogpartner suchen zu wollen zu sich zu nehmen bereit ist (d.h. seelisch seine Willensprozesse zu beobachten und gegebenenfalls zu korrigieren), um z.B. zu vermeiden in dualistische Auseinandersetzungen verwickelt zu werden, die nur allzu schnell zu einem Schattenboxen führen. Die Wissenschaftsentwicklung steht nämlich im Übergang von einem dualen, auf die äussere Natur bezogenen Verstandesseelen Bewusstsein hin auf eine Bewusstseinsseele, die nach innen im Denken auf die exakte Führung von Willensprozessen die Aufgabe hat Entwicklungen voran zu bringen.
Schütten Sie also bitte nicht weiter Öl ins Feuer und halten im kommenden Jahr den Dialog mit aus Ihrer bisherigen Sicht gegnerischen Elementen der Anthroposophie  über alle Gegensätze hinweg offen. Suchen Sie, mit Verlaub in unser aller guten Willen, das Gespräch mit Wolf Ulrich Klünker, Christian Clement und Jost Schieren in einem geeigneten Dialogforum.
Ich grüsse Sie aus vorweihnachtlicher Kälte,

Bernhard Albrecht Hartmann


                Erkenne Dich selbst


                Im Spiegel des Ander-Ich
                trittst Du Dir entgegen,
                bist laut oder leise aufgefordert
                Dich zu erinnern,
                wo von heute her
                Du wachsen kannst über Dich hinaus.
               
                Das Ander-Ich ist Dein Stimmgeber.

                Im grossen Orchester der Vielen,
                die mit Dir unterwegs sich zu erkennen,
                bist du herausgefordert
                stets auf ein Neues das Mass zu finden,
                die notwendig nächsten Schritte zu erwägen
                und authentisch besonnen zu gehen.

                © baH, 27.11.2019