Montag, 5. November 2018

Im Gespräch über die seelische Beobachtung

rolandwiese
25. Oktober 2018 um 0:00
Lieber Bernhard Albrecht, Ja zu deinem Beitrag! Mein Blick geht aber in eine etwas andere Richtung. Das, was du beschreibst ist ja gewissermaßen eine Art Grundvoraussetzung für den individuellen und gleichermaßen sozialen Entwicklungsprozess. Mein Blick hat als Hintergrund die merkwürdige Figur des Dionysos. Das Eindringen in die dionysische Wirklichkeit des Lebens hat die Voraussetzung, dass mein Denken empfindungswirksam wird. Bestimmte Denkformen sind aber einfach nicht in der Lage solche Empfindungen auszubilden, die wiederum das Leben, das Lebendige, empfindungsfähig werden lassen. Also Bewusstsein wird Leben; Leben wird Bewusstsein. Die Raserei entsteht an der Stelle, an der Bewusstseinsformen auf das zusammenhängende Leben treffen, die diese elementaren Verhältnisse chaotisieren. Die elementaren Verhältnisse in unserem Organismus und in der Natur sind aber auf solche Empfindungsmöglichkeiten angewiesen. Dionysos wird zum fürchterlichen Gott in den Menschen, die mit einem nicht angemessenen Denken und in der Folge mit nicht angemessenen Empfindungen in die Elementarwelt, das heißt in das Leben eindringen.
Eine Ursache für dieses Geschehen liegt in der zunehmenden Aushöhlung des alten Selbstgefühls, seit der Mitte des letzten Jahrhunderts und der damit einher gehenden Notwendigkeit, dieses schwächer werdende Selbstgefühl (als Grundlage des Egos) zu substituieren, also zu ersetzen und künstlich zu verstärken. Das Abnehmen des natürlichen und früher meist gruppenhaften Selbstgefühls ist aber ein Prozess der notwendig ist; er führt aber in krisenhafte Zuspitzungen, oder den horro vacui, also in eine Leere und Langeweile, die nur durch eigene individuelle Produktion wieder neu erfüllt werden kann. (Beuys war nicht zufällig genau in der zentralen Phase dieses Prozesses in dieser Richtung hin wirksam). Es ist ein gewisser Schwellenübergang in dieser Richtung hin erfolgt. Und dadurch entsteht natürlich auch die ungeheure Situativität in jeder Begegnung und die Möglichkeit, dass sie in die eine oder andere Richtung (oder beides) sich entwickelt. Und schon die Beurteilung darüber nicht mehr nach ‚bürgerlichen‘ Maßstäben möglich ist, sondern sich erst mit der Zeit zeigt….

Lieber Roland. Ich sinne über Deine Antwort nach und wage eine erweiternde Ansage, die einen innerlich möglicherweise schmerzhaften Ruck auslösen kann. Weichst Du mir in Deinem Sagen nicht vielleicht „unmerklich“ ein wenig aus, denn prozesshaftes Denken kann ohne eine vertiefende Vergegenwärtigung auf eigene Empfindungen hin überhaupt nicht in Gang kommen?

Die im Umraum des Denkens sich bildenden Empfindungen müssen nämlich begleitend so weit geklärt werden, dass ich selbst nicht mehr in einer abhängigen Bindung zu ihnen stehe, was heisst, dass ich lerne ihnen frei in der inneren Anschauung gegenüberzustehen, ohne in der einen oder anderen Weise mich von ihnen da oder dorthin ziehen zu lassen. Ich bin also aufgefordert Herr im inneren Erlebnis-Umraum zu werden, Herr im eigenen Haus zu sein. Insofern kann seelische Beobachtung auch als ein gleichsam spagyrischer Reinigungsprozess gesehen werden.

In der seelischen Beobachtung geht es um äusserste Exaktheit im Umgang mir selber gegenüber, sind Empfindungen, die zunächst an die eigenen inneren Denkfiguren gebunden auftreten auf ihre Bindungsgegebenheiten hin genauestens zu untersuchen. Nur insoweit dies fortlaufend immer tiefer geschieht, ist die seelische Beobachtung ein wissenschaftstaugliches Instrument. Rudolf Steiner stellt damit höchste Anforderungen an diejenigen Menschen, die sich als Repräsentanten einer weiter zu entwickelnden Geisteswissenschaft sehen wollen.
Wenn ich vor diesem Hintergrund Deine Aussage „bestimmte Denkformen sind aber einfach nicht in der Lage solche Empfindungen auszubilden, die wiederum das Lebendige empfindungsfähig werden lassen,“ die also im Sinne Deines weiteren Wortlautes „Bewusstsein ins Leben“ hineintragen und umgekehrt „Leben in Bewusstsein“ erwachsen lassen näher betrachte, dann frage ich mich: „Überhebst“ Du Dich damit genauer besehen nicht ein wenig, triftest in eine duale Anschauungsweise ab, wo es doch darum geht nonduale Brücken im Sozialen zu bauen?
Oder noch konkreter, was ist es, das mich eben jetzt seitwärts blicken lässt, mir Nebenwege vorgaukelt und möglicherweise die tiefere Verankerung in mir, die Betrachtung des Hier und Jetzt leise unterwandert. An den stillen Quelldolen des in Wirksamkeit hinein sich befreienden Ich geschieht Herausforderndes, das die eigene Aufrechte auf ihre tatsächliche Bodenhaftung hin prüft, immer wieder und hartnäckig. Solange, bis wir bereit sind die Schlangenwege zu verlassen uns selber aus dem Weg zugehen, indem wir aus Gewohnheit unseren Blick fast „nur“ auf den jeweils anderen Menschen richten.
Sind es nicht wir, die mit unserer Empfindungsfähigkeit in Vorleistung gehen müssen, damit die Empfindungen Anderer daran Orientierung erleben und sich „erkannt fühlend“ über sich hinaus wachsen können? Das auch noch so leise Beklagen, was nicht ist bringt die Welt um keinen Quadratmillimeter weiter nach vorne. Jedoch ist in scheinbar „nur“ rudimentären Empfindungen für den, der sich darum bemüht ein Rauschen in der Tiefe zu vernehmen, das unter geeigneter Hilfestellung sich in vertiefte Empfindungen hinein befreien und ausdrücken lernen kann - soweit meine Erfahrung.
Im Übrigen ist die Qualifizierung einer sogenannten „minderen“ Empfindungsfähigkeit im Äquivalent vielleicht auch mehr an die Trägheit, um nicht zu sagen an die innere Faulheit des jeweiligen Umgebungsfeldes und seiner Akteure gebunden, die vor lauter (geistes)wissenschaftlichen Meta-Diskussionen das notwendige praktische Handling, das aus anhaltenden seelischen Beobachtungen hervorgehen könnte schlichtweg vernachlässigen.
Derartiger Selbstkritik wird jedoch gerne ausgewichen, womit ich keine Kritik gegen irgendwen ausdrücke, also auch nicht per se gegen Dich, sondern nur ein weiteres Mal auf die seelische Beobachtung verweise, die derartige Ausweichmanöver im eigenen Ausübungsprozess dieser Methode einem oft genug vor Augen stellen kann. Wenn Bewusstsein in Leben hineinwachsen will hat die Prüfung dessen was ist in meinen Augen primär bei einem selbst anzusetzen. Alles andere endet nur in dualen Selbstfesselungen und unterstützt damit indirekt die weitere Aushöhlung des Selbst von der Du sprichst.
Natürlich hast Du recht wenn Du von der Aushöhlung des Selbstgefühls in unserer Zeit sprichst. Doch gilt in meinen Augen auch hier, dass die eigene fort und fort entwickelte Empfindungsfähigkeit hier vor ungeahnten Möglichkeiten steht dies jeweils situativ auch verändern zu können. Dabei ist es allerdings nicht zu umgehen, dass Du Deinem eigenen Horror Vacui begegnest und innerhalb dessen den vielfältigen Scharaden des Dionysos. Dies solange, bis, wie ich schon sagte Du Dir nicht mehr selber ausweichst, Dich im dauerhaften inneren Gleichgewicht einfindest in der Spur des wirksamen Ich.
Das wirksame Ich ist die Frucht strengster Selbstkritik, einer Selbstkritik die in die notwendige Tiefe hinein heute allein aus der seelischen Beobachtung hervorgehen kann. Hierin ist Rudolf Steiner so ungemein modern - was bisher aus meiner Sicht nicht annähernd wirklich erfasst wurde - weder von Anthroposophen, noch von diversen Vertretern der gängigen wissenschaftlichen Forschung. Rudolf Steiner hat nämlich mit dieser Methode der kritischen Forschungsweise der Naturwissenschaft jenes Element hinzugefügt, das sicherstellen kann, dass der Mensch und die tatsächliche, nicht nur halbherzig nachgeschobene Achtung seiner Würde in der wissenschaftlichen Forschung präsent, sprich wirksam bleiben kann. Er hat damit auf nicht weniger verwiesen, als dass die Aufklärung der Vergangenheit und die mit ihr einhergehende Ausbildung nach aussen gerichteter kritischer Forschung ergänzt werden müsse um eine nicht minder kritische Forschung des inneren Selbstgefüges des Menschen. Andernfalls würde der in die abstrakte innere Diaspora vertriebene Mensch die lebendige Anbindung an den Geist nur verlieren können.

Bernhard Albrecht