Dienstag, 21. November 2023

Aus den Erlebnissen eines alten Mannes an der Schwelle seines Todes

Ich hatte in den letzten Monaten in meiner Wohnumgebung immer wieder Begegnungen mit einem alten Mann, der zu Ostern vor 2 1/2 Jahren ohne irgendwelche gesundheitliche Vorwarnungen von einer Krebsdiagnose im weit fortgeschrittenen metastasierenden Stadium überrascht wurde. Die medizinischen Befunde legten nahe, dass seine Erkrankung so ernst sei, dass er mit dem Tod wohl noch vor Ende selbigen Jahres rechnen müsse. Trotz dieser Aussicht und entgegen einiger Bedenken aus seinem persönlichen Umkreis entschloss er sich, wie er mir vor einiger Zeit einmal erzählte, zu einer Chemotherapie. Er fuhr also unscheinbar zielstrebig wie er war alle drei Wochen mit dem Zug nach Zürich und unterzog sich am dortigen Universitätsspital ambulant seiner spezifischen Chemotherapie. Vier Monate später dann, nach einer erneuten gründlichen Untersuchung, der ärztliche Bescheid: Es seien keinerlei Symptome seiner ursprünglichen Erkrankung mehr nachzuweisen. Wie konnte das sein?

Wie er mir erzählte sei er in dem Bewusstsein in die Chemotherapie hineingegangen, dass das Leben noch etwas mit ihm vor hätte und habe in dieser inneren Haltung die Beschwernisse, die überwiegend erst nach der Chemotherapie sich einstellten, innerlich durchgetragen. Der bestürzend erlebte Vitalitätsverlust nach der Chemotherapie sei riesig gewesen und er hätte die letzten zwei Jahre durchweg stark damit ringen müssen sich wieder in seine Beine hinein zu finden. Am Morgen wie neben sich stehend war ein Sinn gebender Tagesablauf beinahe durchgehend mit dem Ringen um seine körperlich innere Aufrichte verbunden. Doch er hätte trotz der Beschwernisse, die im verminderten Umfang bis heute anhielten zu keinem Zeitpunkt auch nur daran gedacht aufzugeben.

Und seine Kraft sei nach und nach immer deutlicher wahrnehmbar wieder angewachsen. Wie er an dieser Stelle betonte sei aber nicht die alte Vitalität zurückgekehrt, sondern er hätte auf die letzten beiden Jahre zurückblickend eine neue Lebenskraftquelle in sich erschlossen. Er erlebe nämlich einen deutlichen Unterschied zwischen seinem alten Vitalitätsempfinden und seinem gegenwärtigen Kraftzustand. Die Kraft, die er an jedem Tag oft für die einfachsten Verrichtungen brauche, müsse er willentlich von Mal zu Mal aus sich hervorbringen. Nichts sei mehr so wie es war und das löse über die wortwörtlich fortlaufend neu zu initialisierenden Anstrengungen hinaus von Tag zu Tag am Ende eine wachsende Dankbarkeit aus. Er erlebe, dass das alte Leben ihm tatsächlich genommen worden sei damit ein neues Leben, vom Grund her immer mehr in seinem Willen stehend, an dessen Stelle treten könne. Mit diesem Neustart ins Leben hinein sei nämlich, wie er nachdenklich anmerkte, sehr viel mehr verbunden als die Folgen eines bedrohlichen Krankheitszustandes zu überwinden. Kurz und bündig gesagt. Arbeit am und mit dem Leib. … Arbeit am Leib als Instrument des Geistes … was wissen sie darüber wirklich? … fügte er lächelnd hinzu. Und nachdenklich … Sokrates sei, wenn ich es recht bedenke der erste Mensch gewesen, der Bewusstseinsarbeit im modernen Sinne angestossen habe.

Was mir in den Begegnungen mit diesem „Alten“ mit der Zeit sehr nahe ging war dessen tänzerische Leichtigkeit im Vollzug seines Denken. Um was es in unseren Gesprächen auch ging, er schien ganz aus der Anschauung dessen was ihn von Fall zu Fall bewegte zu sprechen. Einmal als er über Joe Biden und Vladimir Putin im Zusammenhang mit der Ostsee Pipeline 2 sprach riss es mich innerlich wie von den Füssen. Er sagte nämlich dieses: „Natürlich konnten die Amerikaner diese Pipeline sprengen und Joe Biden konnte das anordnen, natürlich kann Putin mit seiner verdeckten Kamikaze Einstellung die Ukraine mit Bomben in Schutt und Asche legen. Ob Joe Biden oder Vladimir Putin aber auch im Angesicht ihres eigenen Todes diese Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringen können, wenn die Sprengbomben der Pipeline, bzw. die Gesamtheit der über der Ukraine von Putin zu verantwortenden Bombenabwürfen mitsamt den Nöten vieler Bürger aus ganz Europa und weltweit, welche durch den daraus hervorgehenden Wirtschaftsabschwung in Not gerieten, … wenn die damit einhergehenden Geist-Seelenzustände wie lebendige Feuerprozesse diese beiden Männer durchdringen werden, ob sie dann immer noch so gerade vor der Welt dastehen wie sie es jetzt noch zu tun scheinen, er wisse es nicht.“ 

„Eines wisse er aber mittlerweile mehr als deutlich, dass die Perspektive der Menschen, die im eigenen Leben Bedeutung hatten, wenn deren Geist Dynamik auf dich angesichts deines plötzlichen nahen Todes Dir verstärkt ins Bewusstsein trete, dass dieses eine Menge schmerzlicher eigener Turbulenzen auslöse, denen nicht so ganz einfach zu begegnen sei.“ 

Nicht umsonst weist Jacob Böhme mit der Aussage: „Wer nicht stirbt bevor er stirbt, der verdirbt“ auf die notwendige Auseinandersetzung mit dem Tod hin. Denn, so sprach er wörtlich weiter, „das Leben ist erst dann wirklich gelebt, wenn es die Blickrichtung des anderen Menschen im Dialog im fragenden Interesse vor dem eigenen Tod mit einschliesst.“  Dieses zu tun könne nämlich erst jene Bewusstseinskraft freisetzten, die heute unbedingt in das Leben eingeflochten vor der Welt leise in Erscheinung treten müsse. Andere Menschen (wiederum wörtlich) „kann ich erst dann wirklich verstehen, wenn ich deren Intention im Angesicht meines Durchgangs durch den inneren Tod (die unverblendete Selbsterkenntnis) mir vor Augen habe treten lassen. … Ich frei geworden sei von der Unbedingtheit meiner eigenen Weltbetrachtungsweise.“

Ich frei geworden sei von der Unbedingtheit … , ich die Blickrichtung im Denken des je anderen Menschen vor dem eigentlichen Tod mit einschliesse. Ihn befragend, was das hiesse schwieg er lange, straffte dabei merklich die eigene Rückenhaltung auf der Bank wo wir Platz genommen hatten und schloss seine Augen, bis er nach mehreren Minuten - mir unmittelbar in die Augen schauend - wieder zu sprechen begann. Leise, so als ob er in weite Fernen gelauscht hätte und das dort Angeschaute nunmehr mühsam in geeignete Worte zu fassen suchte. „Wissen Sie, die Menschen sprechen heute nur noch sehr wenig mit - einander, wenn sie vordergründig zueinander sprechen. Sie tauschen Meinungen aus, aber sie sprechen nicht miteinander, sind wenig oder gar nicht bemüht den anderen Menschen wirklich zu verstehen. Ist es nicht weit verbreitet so, dass sobald der andere Mensch die ersten Worte ausgesprochen habe, diese noch ehe selbige Rede beendet ist im Gegenüber buchstäblich in dessen Meinungshorizont wie verwurstet werden. Verstehen wird viel öfter als wir dies gewahr werden gar nicht mehr gesucht. Endsprechend kurzlebig ist das Erinnern. Worte werden nicht mehr als Worte im eigentlichen Sinn vernommen, sondern sind nur noch Information. Information mit einer Halbwertzeit von oft nur wenigen Minuten.“ 

Demgemäss lösen Worte eher selten noch ein tieferes rückfragendes Interesse aus. Derartige Informationsaustausche geben keine Gewähr, dass sich daran noch Interesse geleitete Dialogbögen anschliessen. Das Interesse versickert im Augenblick und findet aus sich, weil das Denken im Allgemeinen in der Abstraktion gebunden ist“ keine Entwicklung in Richtung eines nachhaltigen fragenden Aufeinander Zugehen. Es bleibt kurzlebig. Rückbesinnung auf ein eigenes vertieftes Selbsterkennen wird so sehr erschwert, „denn Selbsterkennen bedarf des fragenden Du, wie gleicherweise des sich öffnenden Gegenüber Du.“ Wo sich aber Menschen zunehmend in Meinungsnetzen wie einspinnen, bzw. von aussen unversehens vereinnahmt werden breiten sich Einsamkeiten aus. Die Menschen entfremden sich zusehends voneinander. Mit der Gegenbewegung des persönlichen Protestverhaltens oder schlimmer noch manipulativ von aussen angezündeter gewaltsamer Protestaktionen (Israel/Hamas Sympathie Gegensätze auf deutschen Strassen). Die Emotionen kochen über und brechen sich Bahn. Ungehemmt.

Mit einem Lächeln nahm der Alte an dieser Stelle mein unausgesprochenes Fragen mir wie vom Munde weg und sprach wie folgt. „In derart angespannten sozialen Verhältnissen kann nichts, rein gar nichts getan werden, das weitere soziale Unruhe-Ereignisse verhindern könnte. Im Gegenteil solche Geschehnisse werden zunehmen und sich weiter ausbreiten, Spannungen an vielen Orten und aus nicht voraussehbaren Anlässen heraus entzünden. Es sei sinnlos Menschen, die in dergleichen sozialen Umgebungen sich bewegen zu irgendetwas drängen zu wollen. Selbst eine noch so gut aufbereitete politische Bildungsarbeit kann da nur zu kurz greifen. Was Not tut ist eine durchgreifende innere Haltungsumkehr einer grösseren Anzahl von Menschen … gewissermassen als Ferment für eine tatsächliches in die Wege leiten der heute immer wieder so beschworenen Zeitenwende. Das aber bedeutet die heute überwiegend nach aussen gerichtete Perspektive in der Betrachtung der aktuellen politisch-sozialen Geschehnisse notwendig zu ergänzen um deren Innenperspektive. Denn: Ohne in die eigenen Handlungsabläufe permanent das Selbsterkennen einzubauen werden sich die gegenwärtigen Weltverhältnisse nicht nachhaltig verändern lassen.“

Beziehe ich die Erfahrungen meines unmittelbar vor den eigenen Tod gestellt Sein hier ein, so kann ich nur sagen, der Durchgang durch den eigenen inneren Tod zieht eine weitreichende Desillusionierung nach sich, die darüber hinaus in meinem Falle ein Lebensgefühl neuer Art in mir erweckt hat. Mich erinnernd welche Bedeutung nicht selten sehr gegensätzlich zu mir stehende anderen Menschen in meinem Lebenslauf ich angesichts meines zeitnah bevorstehenden Todes für meine eigene Entwicklung innerlich ausmachte, lässt mich von heute her in einer völlig neuen Weise auf den Tod hinblicken, der doch tief verwurzelt so ziemlich die ganze Menschheit in ihren Tiefen auf die eine oder andere Art mehr oder weniger belastet, bzw. vielfach verschleiernd vor sich her geschoben wird. Diese so weit reichenden Verschleierungen mit Bewusstsein zu durchdringen, das ist die eigentliche Aufgabe der gegenwärtig unabweisbar weltweit zu vollziehenden Zeitenwende im Denken. Der Mensch ist in die schöpferische Mitverantwortung gerufen.

© Bernhard Albrecht Hartmann, 21.11.2023