Mittwoch, 5. September 2018

Ich - Karl Ballmer - Die Frage geht weiter - 1.Teil

In dem Katalog Kopf und Herz, der anlässlich einer großen Ausstellung des Malers Karl Ballmer (1891-1958) 2016 erschienen ist findet sich ein schöner Beitrag von Ulrich Kaiser: ‚Ballmers ursprüngliche Einsicht‘. In diesem Beitrag habe ich eine interessante Stelle zum Ich gefunden. Karl Ballmer schreibt an seinen Freund Friedrich Widmer: „Ein "allgemeines Ich" ist Begriff, denn ein Begriff ist ja stets ein "Allgemeines." Das Wirkliche Ich ist aber nicht im Sinne eines Allgemeinen, sondern ist Individualität, Einzigmaligkeit. Bedeutet "Wissenschaft" das System der Begriffe, die von einem obersten Begriff (etwa "Gott" ) zusammengefasst werden, so bedeutet das historische Auftreten des wirklichen Ich für die Wissenschaft die Notwendigkeit, das System der Begriffe zu verwandeln in ein System der Iche. Also wenn z.B. bislang der Baum erkannt war, wenn der "Begriff" des Baumes festgestellt ist, so wäre jetzt nur fortan zu fragen: in wiefern ist der Baum Ich. Oder wenn bislang die erkenntnistheoretische Grundfrage lauten dürfte:"Was ist das Erkennen," so hätte auf dem Boden der neuen Tatsachen zu lauten:"Wer ist das Erkennen"“ (S. 136)(1)

Das wirkliche Ich. Umweht nicht schon diese Überschrift in dem Blog Beitrag von Roland Wiese ein gewisser Hauch von Absurdität. In einer Zeit, in der wir tagtäglich viele Male das Wort „Ich“ gebrauchen - was tue ich da, wenn ich nach dem wirklichen Ich frage? Genauer betrachtet muss das doch heissen, dass ich wenn ich „Ich“ sage nicht in meinem Ich gegenwärtig bin, denn ansonsten müsste ich nicht nach dem wirklichen Ich fragen. Autsch … das lässt mich jetzt auf dem Boden auf dem ich stehe schon etwas schwanken. Wenn nicht, dann … und das tut, so ich in meinem augenblicklichen Bemühen mir gegenüber konsequent ehrlich voranschreite richtig weh, stehe ich mit der Aussage dieser Überschrift (das wirkliche Ich) tatsächlich nicht im Ich. Ich bewege mich im Allgemeinen, sinniere gewissermassen vom Dach der Welt aus in meinem (gemeinhin unbemerkt) dual ausgerichteten intellektuellen Räsonieren über ein zu Begreifendes, das ich in Tateinheit nicht begreife, wenn ich im gleichen Atemzug in dem ich es begreifen will nicht der „inneren Bewegung“ mich in seelischer Beobachtung beobachtend annähern kann, was ich da genau zu begreifen suche.

Denn: Über das Ich kann nicht gedacht werden. Ich kann nur aus dem Ich heraus denken. Doch um diese Art zu denken innerlich auf den Weg zu bringen muss ich ich mich zunächst meines Willens vergegenwärtigen. Und dies bedeutet sich ein Tun innerlich abzuringen, das gegen die vorherrschende Gewohnheit anzugehen hat. Denken als Prozess-Erfahrung.

Hier geht es also um ein Umstülpen in meinem Verhältnis zur Welt, was heisst: Ich muss in das Verwirklichen dessen, was ich zu verstehen trachte unmittelbar eintreten. Ich kann es nicht mehr, wie bis anhin von aussen als irgendwie Unbeteiligter einfach nur in abstrakten Bilderfolgen ohne tatsächlichen Erfahrungsbezug wie automatisiert mir zur Kenntnis bringen. Ich erschaffe vielmehr im beobachtenden Inne-Werden meiner begreifenden inneren Bewegungen, meines beständigen Begriffe Umschmelzen im jeweiligen Erfassen dessen was ist, Wirklichkeit. Ich erfasse mich selbst, erhelle mich in meinem Ich-Sein mehr und mehr, erfahre mich als Ich. Die Aussage „das wirkliche Ich“ beinhaltet also eine Erfahrung inneren sich Bewegens oder sie verweist auf ein "Noch Nicht," verharrt in einem Allgemeinen, das seiner Verwirklichung im Vergegenwärtigen seiner Bewegungen an den jeweiligen Tatsachen noch harrt. Individualität ist ein fort und fort  sich Bildendes und kein Status.

Dem gemäss ist die Ich-Du Begegnung, wo auch immer sie geschieht eine in ihren Untergründen immer sehr Ernste. Das wird auf den ersten Blick so nicht gesehen und das ist auch gut so. Karl Ballmer aber beunruhigt die Frage nach dem Ich in seinem Bildwerk vielerorts mehr als in seinem Sagen an seinen Freund Friedrich Widmer, denn da bekommt es, wenn auch eine mitunter verhüllte, darüber hinaus aber eine geradezu dynamische Farbigkeit. Einem vertieften Kunstbetrachten tun sich Abgründe auf und innere Erschütterungen des Erfahrens können sichtbar werden. Balmer stellt sich vor den Augen des stillen Betrachters in einem nachgerade erratischen inneren künstlerischen Ringen „seinen Ich-Erfahrungen.“ Wenn du soweit in die Betrachtung seiner Bilder hineingehen willst macht das betroffen und erzeugt Respekt vor soviel Ehrlichkeit sich selber gegenüber.

Die Ich-Du Begegnung auf den zweiten oder dritten Blick. Sie ist eine Herausforderung, denn sie impliziert ein durch das Du Angerufen Werden, was heisst verändere dich, wenn Du ersthaft „Ich“ werden willst. Denn: Im Ich-Sagen oder Dich als Ich fühlen bist Du zumeist sehr viel weniger Ich als Du zu sein vermeinst. Warum: Weil im Ich-Sagen Du weit häufiger, als Du geneigt bist dies vor Dir zuzugeben Du Dein Ego verbirgst.

Das Ich ist in seiner Entwicklung auf ein gegenwärtiges Erfahren seiner selbst nämlich eine Symbiose mit dem Ego eingegangen. Eine notwendige Symbiose, weil das Ich als innere Krafterfahrung in Bewegung eine derartige Herausforderung darstellt, dass es über lange Zeit zunächst die Möglichkeit braucht in einen Schutzraum gleichsam wie zurück kehren zu können und diesen bietet ihm eben das Ego. Das Ego kann von daher als die Gebärmutter des Ich betrachtet werden. Im Ego wächst das Ich heran bis es kraftvoll genug ist um sich zu lösen und zu verselbständigen, sprich im wahrsten Sinne des Wortes in der Lage ist in seiner individualisierenden Kraft vor die Welt hintreten zu können. Gerade in spirituellen Zusammenhängen wird dieser Tatbestand heute nicht selten übersehen. "Man" fühlt sich berufen über andere Menschen das Haupt zu erheben.

Mit Karl Ballmer gesprochen ist „Einzigmaligkeit“ jedoch eine schwer zu verdauende Erfahrung und alles andere als eine Glockenturm Weisheit, die zu verkünden ist, so Du Dich als tatsächliches Ich über ein allgemeines Räsonieren hinaus überhaupt dafür öffnen kannst und willst. Einzigmaligkeit ist eine Erfahrung, die alles, wirklich alles von Dir einfordert. Bist Du willens die Vorstellungsverschleierungen von diesem Wort zu lösen, so tut sich dahinter ein Erfahren auf, das Dich nicht nur einmalig, sondern immer wieder erschauern lässt. Vom Ich sprechen und das Ich als ein in Bewegung sich selbst Erschaffendes erfahren, dazwischen liegt solange ein Abgrund wie es Dir an dynamischer Kraft in Deinem inneren Wirklichkeit bildenden Bewegen auf Deine langsam sich erweiternde Ich-Gegenwärtigkeit hin noch fehlen mag.

Als die Essenz des Forschen von Aristoteles über den Aktus kann in seiner Metaphysik angesehen werden, dass der Wille nicht vom Denken getrennt werden dürfe. Genau das ist in der geistigen Entwicklung nach ihm aber geschehen. Der Wille hat sich vom Denken getrennt. Das Denken hat sich in einer Art abstrahiert, dass der in ihm waltende Wille gemeinhin als nicht mehr zugänglich erscheint. Und genau dieser Umstand ist es, der heute die Frage nach dem wirklichen Ich aufwirft. Was Aristoteles in seiner Metaphysik in  seinen Ausführungen zum Aktus als Träger zukünftig zu erringender Ich-Gegenwärtigkeit wie verborgen hat ist nunmehr in Tateinheit einzulösen. Die Gegenwärtigkeit des Ich im Denken. Das Denken als zu erfahrende innere Willenshandlung oder mit Wilfrid Jaensch gesagt: Geisteswissenschaft muss Geisteswillenschaft werden (2), (3). Noch anders gesagt: Wenn die indirekte Frage nach dem Ich nicht nur in der heute üblichen Weise auf einer allgemeinen Begriffsebene gestellt festhaltend weiter verweilen soll, sondern als eine existentiell zu erforschende Daseinsfrage sich darstellen will dann geht es dabei um eine Dynamisierung des Willens (4). Diese Dynamisierung mehr und mehr zur Darstellung zu bringen ist die vielleicht grösste Herausforderung heute, wenn es um die Frage nach dem wirklichen Ich geht.

Das Ich als die sich selbst greifende, sich fliessend beständig wandelnde Entität des Seins schlechthin zu verstehen, als den Gestaltfaktor der das sogenannte Übersinnliche in fortlaufender Vertiefung zur Seinserfahrung werden lassen könnte, das wäre „die“ erweiterte Aufgabe, die ein sich selbst zu gegenwärtigen Erfahrung bringendes Ich in die eigene Seinserfahrung zu implementieren hätte. Ein Denken, welches das Übersinnliche nicht praktisch konkrete Seinserfahrung werden lassen kann ist in meinen Augen nämlich eine Verzerrung dessen was es sein kann.

„Die Welt ist die Gesamtheit der von mir hervorgebrachten Tatsachen …“ (5)(Original Ludwig Wittgenstein Traktat 1 - 1.21) oder meine Version davon: Die Welt ist die Gesamtheit der von mir tätig hervorgebrachten Tat-Sachen. Die Welt ist durch Tat-Sachen bestimmt, Tatsachen, die als Bewusstseinsprozesse in mir aktiviert, sich allesamt als tätig von mir hervorgebrachte Tat-Sachen zeigen (Traktate 1.1 und 1.11). Was hier vom gegenwärtigen offen oder verborgen in Abbildern denkenden Denken her noch zu tun, an Bewusstheit im Umgang mit dem Denken noch zu erringen ist, dabei kann einem in innerer Anschauung schon schwindlig werden. Von daher wäre es an der Zeit für echte Gespräche unter in ihrem Denken modern ausgerichteten Platonikern und Aristotelikern, denn nur gemeinsam scheint mir diese Herausforderung zu meistern zu sein.

© Bernhard Albrecht Hartmann 05.09.2018

(1)  Textstelle entnommen aus: 
       Orginalquelle: Karl Ballmer - Kopf und Herz, 
       Verlag Scheidegger und Spiess AG Zürich 2016
       siehe zum Thema auch:
       und mehr poetisch in: 
(2)  http://enzyklika.blogspot.com/    daselbst unter 30.04.2015     
(4)  https://ich-quelle.blogspot.com/2017/09/den-willen-dynamisieren_97.html
(5)  Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus.                                                                 
       Die zitierten Traktate beziehen sich auf meinem unter (3) genannten Blog-Beitrag.