Mittwoch, 26. September 2018

Die Frage nach dem wirklichen Ich - 3.Teil

https://rolandwiese.com/2018/08/27/das-wirkliche-ich/comment-page-1/#comment-30

Lieber Roland Wiese
Du hast mir unmerklich(?) eine deutliche Vorlage für die nachfolgende dritte, wiederum nur skizzenhafte Ausarbeitung meines Essays zur Frage nach dem wirklichen Ich geliefert. Die 2. Frage im 2. Teil dieser Essay-Reihe (Was ist unter dem historischen Auftreten des wirklichen Ich zu verstehen?) könnte nach dem vorausgehend Gesagten nunmehr auch lauten: Von der innerlich erfassten Bewegung zu dem Augenblick des historischen Auftreten des wirklichen Ich.
Du sagst, das Ereignis des Ich sei heute der einzelne konkrete Mensch. In meinen Augen ist hier nachzufragen: Wie kommt dieses Ereignis genau zustande? Wie stellt es sich in der seelischen Beobachtung dar, wie zeigt es sich konkret? Bitte nimm dies nicht als eine Attacke gegen Dich persönlich, Hegel hin oder her. Wir leben hier und heute und sind gegenüber damals mit einer vertieften Bewusstseinsmöglichkeit ausgestattet. Und dieser Umstand verträgt es nicht in der forschenden Frage nach dem Ich aus der „Man-Perspektive“ sich mit der Frage nach dem Ich auseinanderzusetzen. Ich ist immer konkret, so wie Konfrontation mit sich selbst eben nur unmittelbar und konkret sein kann.
Und wenn dieser Vorgang nicht auch weh tut, dann bin ich nicht wirklich an der Sache dran. Berührung, Selbstberührung kann nicht ohne Schmerz abgehen, sie muss mitunter auch weh tun, denn wenn nicht, bewege ich mich dann nicht zu sehr im abstrakt Allgemeinen mit dieser Frage? Eine schmerzfreie Geburt gibt es schlichtweg einfach nicht.
Versuche ich mich auch nur ein wenig auf diesen Geburtsprozess innerlich anschauend hinzubewegen, heisst das dann nicht mich auf Unwägbares, Unbekanntes, auf einen Prozess in Neulande hinein einzulassen? Geburt, Neulande … hinübergehen von einem Noch-Nicht in bisher nicht betretene Gefilde? Geistige Geburt. Was hat es damit auf sich? Kann so ein Vorgang beschrieben werden, bzw. kann ich einem derartigen Ereignen überhaupt annähernd begegnen und wenn ja, welche Prozesse kann ich dabei forschend ins Auge nehmen um mich eines derartigen Erleben zu vergewissern? Gibt es ein existentielles Momentum, einen Dreh- und Angelpunkt, innerhalb dessen Durchgang sich Ich Geburt vollzieht, mir Ich Geburt gegenwärtig wird?
Ich Geburt und das Fragen des Sokrates:
Mein Fragen an Sokrates. Inwiefern rüttelt Sokrates mit dem Satz: „Ich weiss, dass ich nicht weiss“ … von heute her gesehen an der Pforte dieses Ich-Werde-Prozesses? Sind in gewissem Sinne vielleicht der Gang über den Schwebebalken innerhalb der fragenden Auseinandersetzung mit diesem Satz und die inneren Erfahrungen, die sich dabei einstellen können die geeignete Vorbereitung für diesen Prozess?
Schwebebalken: Das Loslassen des bisherigen Verständnisses eines Sachverhaltes, einer zu Vergangenheit hin bezogenen Weltsicht, nimmt sie tiefer darauf hingeschaut nicht etwas von dem festen Boden unter meinen Füssen weg, auf dem ich bis anhin stand? Zumindest dann, wenn ich dabei in die Willensbewegung des Vorwärtsgehens innerlich mit hinein gehe. Diesen Umstand verdeckt allerdings die heute allgemein verbreitete abstrakte Weltsicht auf die Belange meines Denkens. Geist-Berührung findet dabei eher nicht statt und demgemäss kann auch der innere Vorgang eventuell tatsächlicher Geist-Berührung, eines Geist-Erfahren auch nicht in Worte gefasst werden. Ich denke und werde mir dabei der tiefer gelegenen Prozessschichten und Prozessdynamik nicht bewusst, die dabei mit im Spiel stehen.
Der abstrakte, „Man“ operierende Intellekt ist ein eifrig beflissener, ein fleissiger bemühter Geist-Arbeiter. Nur, kann er in solcherart Tun dem Geist „in Tateinheit,“ also unmittelbar begegnen? Geist-Berührung sehe ich noch nicht als Geist-Begegnung an. Sie tritt nämlich wie von aussen an mich heran. Ich, dem sie widerfährt, dem sie gleichsam angetragen wird, bin in diesem Geschehen nicht voll aktiver Teilhaber. Ich empfange ein Geschenk. Meinem Geist-Bemühen webt sich etwas ein und flüstert mir zu, wach auf, werde aktiv und stelle Dich auf Deine ureigenen Füsse. Ich-Sein erfahren kannst Du nur aus der Selbstkonfrontation auf Deinen eigenen Grund hin. Steh also auf, nimm Dein Bett unter den Arm, sprich, straffe Deinen Leib in „Zurückdrängung“ - wider allen vermeintlichen Schmerz - der sich Dir dabei in den Weg stellen mag und gehe.
Dazu gehört einiges an Selbstvertrauen und viel, viel Mut. Der Schritt auf den Schwebebalken des „ich weiss, dass ich nicht weiss“ hinaus ist ein gewaltiger. Hier … im Bewusstsein nicht nur irgendwelcher Unzulänglichkeiten, sondern Deiner gesamten bemüht verdeckt gehaltenen Hinfälligkeiten Dein eigenes Gleichgewicht zu wahren, darin wird Deine Ich-Gegenwärtigkeit mehr und mehr historisch. In der unverblendeten Selbstkritik wird seelische Beobachtung real … und wirst Du mit den Worten von Karl Balmer in einem Buchtitel (1) von ihm zum Vollzieher: „der Macher bin ich, den Schöpfer empfange Ich.“ Ich entfalte aus der Erfahrung werdenden Willenskraft den Logos, das Wort in mir, lasse es als Ich in die Welt treten.
Wie aber werde ich des Wortes, das vom Weltengrund her (ein Wort Rudolf Steiners) mich anspricht, gewahr. Der Weltengrund ist heute nichts Überweltlich, Übersinnliches mehr, weist nicht mehr auf eine irgendwie geartete Transzendenz hin. Er tritt mir vielmehr in jedem Augenblick meines Lebens durch das Du entgegen. Sein Raum ist in den Armen des Du geborgen und öffnet sich, so ich darauf hin schauen will. Ich das Du insoweit also nicht mehr als ein duales Gegenüber ansehe, sondern als den Botschafter, den Überbringer der Karma Aufgaben des Ich-Werdens, in die hinein ich erwachen will.
Doch gerade hier scheitern Ich - Du Begegnungen immer wieder. Es kommt tendenziell eher zu einem Auseinandergehen, bestenfalls einem Nebeneinander Hergehen anstatt eines Aufeinander Zugehen. Das Erwachen aneinander im Erfassen der wechselseitigen Du-Botschaften in einem wachsenden Bewusstheit der Prozesse auf die es ankommt, geschieht eher rudimentär in die notwendige Tiefe hinein. Mithin kommt es auch nicht zu einem wesentlichen Voranschreiten im eigenen Ich-Werden. Etwas anders angeschaut, Ich-Werden ist ein recht holperiger Prozess.
Warum? Weil wir in diesem Prozess uns allermeist zu sehr auf das jeweiliges Gegenüber fixieren, anstatt dass wir konsequent in die Beobachtung nehmen, was ich im Spiegel des Denkens des Du in mir beobachte, was auf mich leise hin- oder zurückweisend in meinem Denken erscheint. Streng genommen kann ich, was das jeweilige Du in Persona betrifft erst dann wirklich erfassen, wenn ich zuvor dessen Botschaft an mich vertieft zur Kenntnis nehmen konnte. Der andere Mensch ist mir Schicksalsbote, ist mir Überbringer meiner Karma-Aufgabe. Das, was Rudolf Steiner seinerzeit für die Menschheit neu begonnen hat zu enthüllen findet seinen Fortgang durch das Du.
Was bedeutet, dass ich im Vollzug der Integration dessen, was mir der andere Mensch als Botschaft übermittelt ich mein Selbstbild zu korrigieren habe. Selbstbild Korrektur ist also der eigentliche Hintergrund dessen, was Rudolf Steiner mit den Worten „alle Vorstellungen müssen verbrannt werden“ nach der Weihnachtstagung 1923/24 von den Menschen einfordert, die den Grundstock dieser neuen Anthroposophischen Gesellschaft zukünftig bilden wollen.
Ein Vorgang, der sehr schmerzlich ist, wenn ich konsequent immer wieder neu an seine Umsetzung herantrete. Es ist der innere Kampf gegen die Zargen und blitzschnellen Lasso-Würfe des Ego im Gewande unbemerkt bleibender selbstüberheblicher Subjektivismen, es ist der formalistisch getarnte Starrsinn einer versteckten Angst vermeintliche wissenschaftliche Reputation einzubüssen, wenn der sogenannten Objektivität  dem Vermeinen nach nicht Genüge getan wird. Nur: Was sind Subjektivität und Objektivität, wenn dem Erkenntnis bildenden Willen im Denken nicht aufmerksame Beobachtung gezollt wird?
Wie denn? Kann Wille unserer herkömmlichen Erfahrung nach überhaupt gegriffen werden oder beziehe ich mich da auf ein letztlich dunkles, exakt nicht fassbares Ereignen? Der Erkenntnis bildende Wille, ein Phänomen im Nirgendwo? Nirgendwo? Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel versucht in seinem Buch: „Der Blick von Nirgendwo“ (2)(3) diesen Weg zwischen Skylla und Charyptis hindurch in grosser Offenheit zu finden.
Diesen Blick einnehmen zu wollen oder gar zu können scheint in sich widersinnig zu sein. Doch Prozessdenken wie ich es hier anstosse setzt genau diese Bereitschaft voraus. Sich von Anhaftungen jeglicher Art zu befreien und in diesem „abstrakt undenkbaren“ Bewegungsmodus einzufinden. Es setzt voraus wirklichen Mut zu zeigen und das Nichts als modale höchst virulente Erfahrung verstehen zu lernen und in ihr in fortlaufender Gleichgewichtsbildung dynamisch Einsitz zu nehmen. Hellt sich das Nichts auf, befreit sich das Ich.

Bernhard Albrecht Hartmann


(1)  Karl Balmer, „DER MACHER BIN ICH, DEN SCHÖPFER EMPFANGE ICH,“        
      Verlag Fornasella CH-6863 Besazio, 3. Auflage 2007
(2)  Thomas Nagel: „Der Blick von Nirgendwo,“ Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, STW 2035