Montag, 19. September 2011

Gedenken

Dag Hammarskjöld liess vor 50 Jahren am 18.09.1961 bei einem Flugzeugabsturz sein Leben. Nur wenige Wochen vor seinem Tode, den er vorausschauend auf sich zu kommen sah, schrieb er am 11.06.1961 nachfolgendes Gedicht, das ich hier in der deutschen Version von Graf Knyphausen wiedergeben will. Eine freie Neuübersetzung durch mich aus dem Englischen füge ich an.
Dies Selbstzeugnis eines Grossen mag als unauslöschliche Ich-Tat in gegenwärtig politisch turbulenter Zeit für sich sprechen.


                    Berufen
                    ihn zu tragen,
                    ausgesondert
                    ihn zu prüfen,
                    erwählt
                    ihn zu leiden,
                    frei
                    ihn zu verneinen,
                    sah ich,
                    einen Augenblick,
                    das Segel
                    im Sonnensturm,
                    ferne,
                    seewärts fort vom Land.
                       
                    Sah ich,
                    einen Augenblick -

                    © für die Übersetzung
                    Graf Knyphausen, 1965

                       
                    Weg und Erfüllung

                    Berufen
                    Ihm Herberge zu geben,
                    vereinsamt,
                    zu erfahren
                    Erdendunkelnacht,
                    verlassen,
                    frei den Tod
                    zu bestehen,
                    ihn zu fliehen,
                    schaute ich –
                    für einen Augenblick
                    das Lichtsegel
                    im Sonnensturm
                    zerbrechender Zeit,
                    auf einer Woge
                    des Glücks,
                    einsam –
                    seewärts
                    geboren.

                    In eines Augen – Blickes
                    Ich – Schau.

                    © für die Übersetzung
                    Bernhard Albrecht Hartmann, 06.01.1976

Mittwoch, 14. September 2011

Ich-Werden

Im Augenblick sich ein zu binden und darüber hinaus die Verbindung zum Du zu suchen, das scheint heute des Menschen grösste Angst zu sein. Denn es bedeutet zugleich das Wagnis sich im eigenen Unvollendet-Sein zu „zeigen.“
Selber unvollendet könnte ja jemand auftreten, der Wunden in Dir bloss legt, einfach nur durch das, was er arglos oder beiläufig zu einem Sachverhalt aus seiner Kenntnis heraus sagt. Das aber ist dem Menschen tief eingeprägt, Du darfst Dich nicht nackt zeigen. Das Feigenblatt muss her und dazu ist jedwede Verstellung erlaubt. Auch um den Preis Gefängnisgitter um sich zu schliessen oder Andere hinter solchen einzuschliessen.
Und dennoch, bringt ein Mensch es fertig, dann erlebt er sich lebendig, dann ist er in diesem Augenblick ganz Mensch, ist er Ich.
Die allenthalben heute zu beobachtende Bindungsunfähigkeit wird so zum Fingerzeig auf ein zu Findendes in sich, das Bindung allein zeugen kann, das Ich. Das Ich wiederum ist, im Gegensatz zum Ego  ein dynamisch zu Bezeugendes, ist nur in und aus der Bewegung heraus.
Wo Mensch sich also auf irgendwelche Überzeugungen beruft, offen oder ganz still nur vor sich selbst, da dämmert das Ich in ihm vor sich hin und entschwindet im Niemandsland des Ungreifbaren irgendwann einmal ganz aus vage erahnter Sicht.
Die grösste Herausforderung scheint mir heute zu sein Ich-Kraft zu entfalten, wo von so vielen Seiten danach getrachtet wird sie still und leise abzuwürgen.
Die Kunst des Heilens erwächst aus Ich-Taten. Die heute so zahlreichen Verwerfungen im Sozialen Raum bedürfen dringend des Erwachens des eigenen Ich am Du.

Bernhard Albrecht

Sonntag, 4. September 2011

Ein Weniges über Kunst


Es liegt für manche Leser vielleicht nahe zu einem literarischen Produkt sogleich einen biographischen Zusammenhang im Hinblick auf dessen Urheber zu suchen. Das wird heutezutage beinahe wie aus dem hohlen Bauch heraus unreflektiert gerne gemacht.
Nun hängt vielleicht nicht nur aus meiner Sicht die Qualität eines literarischen Produktes eng damit zusammen, dass Erlebnisse, die der Urheber eines literarischen Werkes vor dem Hintergrund eines bestimmten Werkes gehabt hat, sich erst einmal wieder von ihm lösen müssen, damit sie in eine wie auch immer geartete literarische Form geprägt werden können. Die mögliche Qualität eines literarischen Produktes hängt nicht wenig damit zusammen, in wie weit dieser Prozess gelingt.
Im Grunde ist es ein innerer Ausgleich zwischen Jin und Yang, der da innerlich geleistet werden muss, wenn ein Werk entstehen will. Dynamische innere Balance als Grundbedingung für Kunstausdruck.
Wird diesem Prozess zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, dann, so meine Sichtweise, kann Kunst auch keine im echten Sinne wirksame evolutionäre Dynamik und Wirkung auf den Leser und im weiteren Sinne dann die Gesellschaft hervorrufen.
Zudem hat Kunst nicht in erster Linie eines selbstdarstellerische Aufgabe. Vielmehr liegt ihre vielleicht wesentlichste Aufgabe darin einen evolutionären Prozess in den Lesern von literarischen Werken auszulösen und darüber hinaus im Betrachten oder Erlauschen von Kunstwerken, schlechthin soziale Prozesse leise in Gang zu bringen.
Pointiert gesagt: Wenn Literatur nicht innere Prozesse des Umdenkens und eines über die vereinzelte Person hinaus reichenden sich weitenden Fühlens, einer sich klärenden inneren Willenslandschaft auslösen kann, dann geht sie an ihrem eigentlichen Auftrag vorbei.
Künstler sein ist in meinen Augen erst dann ein zeitgerecht modernes Unterfangen, wenn tiefere, vielleicht noch sehr verdeckt stattfindende Werde-Prozesse im gesellschaftlichen Umfeld aufgenommen und innerlich verwandelt, wieder in den gesellschaftlichen Prozess zurückgegeben werden können. Künstlerische Ästhetik scheint mir einen ungeschriebenen Zeitauftrag zu haben: Durch allen Kunstausdruck hindurch „das Gesicht des Menschen“ zu vermitteln und zu bezeugen.
Was aber das Gesicht des Menschen sei, das können heute immer weniger weltanschauliche Gruppierungen, ganz gleich welchen Couleurs, vermitteln. Auch das mehr oder weniger  offene Promoten von etwas, was als Zeitgeschmack oder einfach nur als Trend mit möglicher sich steigernder wirtschaftlicher Rendite auf einem so genannten Kunstmarkt betrieben wird, kann höchstens Einseitigkeiten, nicht aber dieses Gesicht in einem in sich abgerundeten dynamischen Bild in Erscheinung treten lassen.
Dieses zur Erscheinung bringen kann nur ein Künstler, der an der tief in ihm schlummernden Berufung künstlerisch zu wirken langsam erwacht und den Mut findet Willensprozesse in sich immer bewusster so zu bearbeiten und zu verwandeln, dass sie ein „Menschliches Antlitz“ bekommen, das pionierhaft für die weitere Entwicklung des Menschen sprechen kann.
Der Mensch als ein Freiheitswesen ist heute gefragt. Die Verantwortung vieler Einzelner liegt heute dort, entgegen allem sich Aufbäumen dieses oder jenen Vertreters, welcher weltanschaulichen Gruppierung auch immer.
Wenn biographische Erlebnisse eines Kunstschaffenden über dessen Person hinaus zum „Träger eines geweiteten  Bildes des Menschen“ werden können, wenn Leser oder Betrachter von Kunstwerken an diesen erwachen für ihr eigenes Menschsein und Werden, dann wird das Freiheitswesen eines einzelnen Kunstschaffenden zum Pionier für weiter greifende gesellschaftliche Wandlungen. Diese zu befördern aber ist der Urberuf von Kunst schlechthin.

Bernhard Albrecht