Montag, 4. Januar 2021

Blinde Flecken I

„Und wo bist du blind? Was übersiehst du, obwohl oder weil du sehende Augen hast?“ https://windwort.blogspot.com/2018/05/blind.html
Wieder einmal trägt Dir der Wind die Frage nach den blinden Flecken im Welt Zugewandt-Sein deiner sehenden Augen zu. Ein Zugewandt-Sein beinhaltet aber im gleichen Atemzug immer auch ein spezifisches Welt Abgewandt-Sein, ob dieses die eigene Innenwelt oder die mehr oder weniger dazu korrespondierende Aussenwelt betrifft. In der Ausrichtung auf dieses oder jenes schliesst Dein Sehen ganz natürlich tote Winkel mit ein. Es ist also von einiger Bedeutung in der Urteilsfindung den dazu gehörigen Sachverhalt von möglichst vielen Seiten betrachtend ins Auge zu nehmen.
Genau an dieser Stelle verschleiern wir uns jedoch allzu häufig unser Denken, indem wir durch Filter, sprich Vorstellungen auf die Begebenheiten um uns herum schauen, die wir der Möglichkeit eines unmittelbaren Erfahren zumeist unbemerkt vorschalten. Was wir sehen und wie wir es auffassen ist also von allem Anfang her nicht selten bereits getrübt in seinem Wirklichkeitsgehalt.
Wenn dem aber so ist, wie kann ich mich davor schützen in diese selbst gestellten Fallen immer wieder hineinzulaufen? Denn was ich sehe wären ja dann von Fiktionen und eigenen Projektionen überlagerte Wirklichkeitsgebilde. Wirklichkeiten also wie ich sie sehen will, wie sie aber … vielleicht tatsächlich nicht sind.
Tatsächlich nicht sind? Ist das nicht ein wenig dick aufgetragen? Auf ein erstes hin mag das so erscheinen, aber genauer besehen …
Gehe ich nämlich der Möglichkeit immer wieder einmal entschiedener nach ich trüge da oder dort Filter vor meinen Augen, die mein Wirklichkeitsverstehen verfremdet oder getrübt haben könnten, so kann sich im Zuge anhaltenden Bemühens ein immer weniger zurück zu weisendes Empfinden einstellen dem in die Augen zu schauen, was am Horizont meines Bewusstseins sich abspielt. - Wenn das „Erkenne Dich Selbst“ immer deutlicher an inneren Türen ruckelt und die seelische Beobachtung auf Zusammenhänge stösst, die auf das eigene Selbstbild schmerzhaft zurückwirken.
Sich empören über Fake News, die z.B. über Twitter Verbreitung finden, nicht nur von Seiten Donald Trumps, ist eines, die eigenen Fakes, die ich denkend produziere genauer zu untersuchen und zu berichtigen ein anderes. Den schönen Schein also unnachgiebig mir selber gegenüber zu identifizieren.
Schein und Sein: Markus Gabriel eröffnet sein neuestes Buch „Fiktionen“ mit diesen Sätzen. „Der Schein ist Sein. Wir entrinnen der Wirklichkeit nicht dadurch, dass wir uns täuschen oder getäuscht werden. Denn das Wirkliche ist dasjenige, zu dem wir nicht erfolgreich auf Abstand gehen können. Jeder Fluchtversuch scheitert hier daran, dass wir uns mitnehmen, dass also dasjenige, dem wir zu entkommen suchen - die Wirklichkeit - durch unsere Einbildung allenfalls verändert wird. Kein Gedanke und keine Tätigkeit bringen sie zum Verschwinden (1).“
Unabhängig von der Gedankenentwicklung, den das Buch von Markus Gabriel in seinem weiteren Verlauf nimmt, will ich hier allein von diesen Sätzen her fragen, was ist die Wirklichkeit vor der wir hier fliehen, was verbirgt sich in dieser Wirklichkeit, das uns anscheinend so erschreckt, dass wir wie einen Schleier über sie zu werfen uns genötigt sehen? Was schauen wir im Spiegel unseres Denkens da an? Vorsichtig tastend gesagt, könnte es unsere embryonale Nacktheit sein, der wir hier gegenüberstehen?
In die Kulissen blinder Flecken hinein zu schauen ist eine echte Herausforderung. Denn: Du bekommst hier kaum etwas zu sehen, das dich auf das Erste hin erfreut. Schon der Jüngling von Sais floh seinerzeit vor der Wirklichkeit, die sich hinter der enthüllten Statue der Göttin ihm darbot. Nur können wir heute nicht mehr fliehen. Wir können es nicht mehr und ich will, muss das hier  auch nicht begründen. Die Antwort kann ein jeder nur allein für sich finden.
Sich an eine wie auch immer geartete Führung wenden zu wollen geht nicht mehr. Die Fussspur des erkenne dich selbst bricht heute unverhohlen vor einem jeden Menschen in je eigener Weise auf.
Sie mit Leben zu füllen ist Ich-Verantwortung. Der Reset um den es geht ist ein nachhaltiges sich Hinwenden auf einen schöpferisch gestalteten Denkprozess im jeweiligen Alltag, bedeutet  Wirklichkeit erschaffen aus dem Ich - und über Gegensätze hinweg Wertschätzung der vielfarbigen  Ich-Gebärden anderer Menschen, die ihren Ich-Weg finden und gehen dürfen. Freies Geistesleben ...

Die Eigenart des Ich aber ist es, weil durch Achtsamkeit aus vielen Quellen belebt, dass jeder seiner Schritte den Mut wachsen lässt.

Bernhard Albrecht

(1) Markus Gabriel Fiktionen, Suhrkamp Verlag Berlin 2020, Einleitung S.17