Dienstag, 29. September 2020

Etwas vom Anschauen des Geistes im Dialog

Vom „Anschauen des Geistes“ sprechen zu wollen ist ein schwieriges Unterfangen. Warum? Weil eine tatsächliche Anschauung dessen was Geist als Erfahrung ist nur aus einer grossen Willensanstrengung immer wieder neu und fortschreitend tiefer hervorgehen kann. Denken und Wille müssen innerlich zu einer Einheit im Erfahren verschmelzen, damit daraus ein Organ für ein echtes Anschauen des Geistes erwachsen kann. 
Solange wissenschaftliches Forschen sich auf ein durch und durch abstraktes Denken stützt, das zudem seine Forschungsgegenstände allein im Aussen meint suchen zu können und das Denken als zentralen Ordner dynamisch forschenden sich Bewegen und aus sich Deuten der Forschungsergebnisse nicht in sein untersuchendes Forschen fragend einbezieht, solange scheint es mir, wird sich diese Wissenschaft aus ihrer gegenwärtigen Krise nicht heraus bewegen können. Die Art und Weise „wie“ ich über wissenschaftlich zu Tage geförderte geistige Forschungsaspekte nachdenke beeinflusst die Ergebnisse, die am Ende herauskommen. Heisst es doch das Was bedenke, mehr jedoch das Wie. Gerade aber Letzterem scheint die Wissenschaft heute in ihrer paradigmatischen Bindung an die objektseitige, bzw. subjektseitige Feldzuordnung ihrer wissenschaftlichen Aussagen immer wieder auszuweichen. 
Anders ausgedrückt, die Wissenschaft konnte bisher - im Sinne einer von heute her notwendig zu konstatierenden entwicklungsgeschichtlichen „Blickfeld-Erweiterung“ - zum Kern ihres eigenen Selbstverständnisses noch nicht gesamthaft vordringen. 
Weil: Seit der Renaissance die Grenzen des Forschen von der Aussenbetrachtung her immer weiter ausgedehnt werden, ohne die Innenseite des fragenden Forschen, nämlich Denken und Wille in adäquater Weise in das forschende Erfahren mit einzubeziehen. Was Denken und Wille in der konkreten individualisierten Anschauung und nicht nur in einer abstrahierenden Abspaltung sind bleibt daher in einem vermeintlichen Wissen verborgen und harrt aus der damit einher gehenden Fremd- Überlagerung durch Vorstellungen noch seiner tatsächlichen verstehenden Enthüllung. Erst wenn Denken und Wille innerlich vor das Bewusstsein eines tatsächlich eigenständigen „Erfahren“ gerückt sind ist die Basis betreten, von der aus im strengen Sinne von einem allseitig wissenschaftlichen Forschen gesprochen werden kann. 
Damit ist „vom Grunde her“ die zeitgemässe Wahrheitsfähigkeit nicht nur der so genannten wissenschaftlichen Elite, sondern die eines jeden Menschen angesprochen. Eine Wahrheitsfähigkeit die jeder Mensch nur in eigener Selbstverantwortung an die Hand nehmen und ausbilden kann. 
Wahrheitsfähigkeit ausbilden - im Dialog, was bedeutet das hier im konkreten Fortgang des bis anhin Gesagten? Und - ist in diesem Zusammenhang nicht auch auf ein Anschauen des Geistes verwiesen? Wie aber soll das möglich sein, da doch gerade in dialogischen Räumen von allzu vielen Seiten sich so Unheilvolles auszubreiten scheint? 
Anschauen des Geistes im Dialog - das Anschauen … : Was steht mir so betrachtet also in den Worten, die ein anderer Mensch dialogisch ausspricht gegenüber? Bin ich hier bemüht mich tastend auf den Kern zu zubewegen, so gerate ich unwillkürlich ins Stocken, denn in allzu vielen Fällen, muss ich genauer besehen im rückblickenden Besinnen feststellen, dass ich die mir zugesprochenen Worte vor meiner Antwort mir nicht wirklich vergegenwärtigt habe, was heisst, ich habe mich nicht so in den Rang eines Gegenüber versetzt, dass sie von daher näher betrachtet und vertieft verstanden, weil weitläufiger überschaut werden konnten. 
Von wegen „gegenüber!“ Mehr auf mich selbst zurückfallend als dem anderen Menschen zugewandt habe ich aus unterschwellig eigenem Vermeinen heraus, demnach aus einer Vorstellung heraus, was in diesen Worten angeblich ausgedrückt sei, meine Antwort gegeben, bzw. auch nur meine stille Auffassung davon gebildet. Ich bin dem „Worten“ des anderen Menschen und damit dem Geist aus dem dieser sprach nicht wirklich begegnet. 
Wenn wir dem Anschauen des Geistes, der Neu-Grundierung der eigenen Wahrheitsfähigkeit hier nur um ein Weniges näher kommen wollen, was ist dann darüber hinaus noch geschehen? Um was geht es in einem Gespräch, wenn es denn ein Gespräch sein soll, bzw. werden will? Es geht um Lauschen und nicht um Selbstbehauptung in einem dualen Schlagabtausch. Es geht darum ein Gespür für den Wind des Geistes zu entwickeln, einen Sinn in sich aufzuschliessen für „Botschaften“ die mich über den anderen Menschen zu erreichen suchen. Der Wind des Geistes weht überall. Die Frage ist allein die, ob ich ein aufgeschlossenes Ohr für sein „Flüstern“ bereit stellen kann und will. 
Dafür ist in mir der Wille aufzurufen der Stille zwischen den Worten, die zu mir gesprochen werden Raum zu geben. Also bereit zu sein Augenhöhe zu dem sagend sich Aussprechenden herzustellen und zwar gerade dann besonders, wenn das Sagend an mich Herantretende fremdartig oder gar unangenehm in mir aufstösst. Es geht also nicht um Wegweisung von diesem oder jenem Aspekt des Gehörten oder auch Gelesenen, ob einseitig oder wechselseitig. Es geht immer um spezifische Botschaften, um Integration, um die Offenlegung des Erkenne Dich selbst innerhalb der nächsten Lebensschritte im Hier und Jetzt. Das heisst - so ich Willens bin die entsprechende Botschaft zu vernehmen - es geht sehr konkret um mich. In den Worten des Dialogpartners bin ich - soweit ich einen Gesprächsbeitrag oder auch einen Streitbeitrag wirklich ernst nehme - über die Sachebene hinaus der unmittelbar Angesprochene. Jeder Teilhaber eines Dialogs in individuell besonderer Weise - denn der Geist spricht facettenreich und kann so die verschiedensten Menschen in je unterschiedlicher Weise erreichen, wenn sie es nur zulassen. 
Auch wenn es erschrecken mag, so weist das Verstehen des hier skizzenhaft Gesagten auf ein je individuelles Metanoia als Tor zu einem „tatsächlich“ Freien Geistesleben. Metanoia … Metanoia und nichts sonst. Denn das „Erkenne Dich Selbst“ allein kann in neuer Weise jene Verbindung zwischen Denken und Wille zeitgemäss wieder herstellen, die im Grunde schon in der Zeit von Sokrates , Platon und Aristoteles auseinanderbrach. Für die Wissenschaft und die durch sie zu erneuernde Wahrheitsfähigkeit bedeutet dies die abstrakte Reflexionsfähigkeit mit einer innseitigen Erforschung von Denken und Wille zu überwinden und mit einem erweiterten Erfahrungsbegriff damit auch Kant auf die Füsse zu stellen. Denn sprach er nicht davon, dass alles, wirklich alles in der Wissenschaft auf Erfahrung gestellt werden müsse. Eine Forderung, die er unvollendet hinterliess, die aber heute umzusetzen nunmehr dringend geboten ist. 
 
Bernhard Albrecht Hartmann