Montag, 25. Juni 2018

Was ist so schwer, dass ich es nicht ändern kann?

Anmerkungen zur Aufarbeitung der Folgen der Generalversammlung der AAG 2018
                                         an Hand des 4. Briefes an die Mitglieder.
http://www.goetheanum.org/aag/generalversammlung-2018/vierter-brief-an-die-mitglieder-mitte-juni-2018/

Auf das erste Lesen hin vermittelt dieser Mitgliederbrief ein erhebliches Tätig-Sein der Verantwortlichen hinter den Kulissen. Anscheinend hat die Goetheanum-Leitung nach dem so nicht erwarteten Ausgang der Generalversammlung eine Betriebsberater-Firma aufgeboten, in der alle internen Abläufe einer genauen Überprüfung unterzogen wurden, um organisatorische Lecks und systemische blinde Flecken aufzuspüren. Das lässt den Eindruck aufkommen: wir als Goetheanum-Leitung nehmen euch - die Mitglieder - ernst und wollen alles tun, um die beanstandeten Mängel an Transparenz in der Kommunikation zu beheben. Und in der Tat scheint sich einiges zu ändern innerhalb der internen Abläufe der Zusammenarbeit am Goetheanum – d.h. der aktuellen Kenntnis von einander - was die Mitarbeiter und die Goetheanum-Leitung wechselseitig jeweils tun. Dies betrifft auch die sachbezogenen Verantwortlichkeiten, die deutlich an Kontur hinzugewinnen. Es entstehen transparentere Strukturen, Strukturen, die Sicherheit vermitteln und verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen sich bestreben. So die Ansage.

Erstaunen stellt sich bei mir allerdings ein, wenn ich in diesem Brief an die Mitglieder lese, „dass dem Vorstand insbesondere die Pflege der inzwischen zu einer Weltgesellschaft angewachsenen Anthroposophischen Gesellschaft obliegt.“
Weltgesellschaft: Ist dies nicht ein Zustand der AAG, der so schon mindestens ein halbes Jahrhundert besteht? Warum also sieht sich die Goetheanum-Leitung jetzt veranlasst, ein besonderes Auge gerade darauf zu lenken?
Und Pflege: Hat nicht Rudolf Steiner die Pflege der Anthroposophie als die herausragende Aufgabe der Mitglieder und des Vorstandes der AAG bezeichnet? Warum also gerade nach dieser Generalversammlung beinahe schlagwortartig wieder die Hinwendung auf diese Aufgabe?

Versuche ich mich ein wenig an die Geschehnisse hinter den Kulissen der gegenwärtigen um Neuordnung bemühten Vorgänge am Goetheanum lauschend heranzutasten, dann wird in mir die eine Frage immer lauter: Wird hier das Scheitern in Bezug auf die individuelle Verantwortung, die Pflege der Anthroposophie wirkkräftig ins Leben hinein zu tragen, nicht erneut verschleiernd behandelt? Und dies gerade anlässlich des Umstandes, dass bei dieser Generalversammlung die Rehabilitierung von Ita Wegmann und Elisabeth Vreede anstand.
Wird im Nachgang dieser Generalversammlung - und der verbreitet erschrocken in sich und um sich herum zur Kenntnis zu nehmenden Gedanken und Emotionen - etwa wieder einmal Geschäftigkeit zu sehr in den Vordergrund gespielt und damit möglicherweise Wesentliches nicht gesehen? 
Denn andernfalls: Hätte der Mitgliederbrief dann nicht noch mehr Offenheit in der Kommunikation vertragen, hätte die Augenhöhe zu den Mitgliedern an Stelle des "wir bringen das schon wieder in Ordnung" nicht tiefer greifend die individuelle Verantwortung des Einzelnen wie der Gemeinschaft als Ganzes für das Scheitern benennen müssen?
Das Bewusstsein für den inneren lebendigen Ausdruck im gesprochenen Wort - seine individuelle Lebensgebärde - anstelle des sich Verbergens hinter dem „Wir“ ist in den letzten 50 Jahren unter den Mitgliedern erheblich angewachsen und damit auch die Mitverantwortung. Dies hier so deutlich anzumerken fällt mir alles andere als leicht.
Dieses Scheitern nicht klarer zu benennen, ist in meinen Augen nämlich das grösste Manko, warum die verschiedenen Krisensituationen in der Geschichte der AAG bis heute im Untergrund weiter schwären und von Zeit zu Zeit sich immer wieder einmal auf die eine oder andere Weise neu entzünden. Es geht und ging bei all diesen Vorkommnissen letztlich immer um das Eingeständnis der individuellen Verantwortung einer jeden der miteinander im Konflikt sich befindenden Personen, gleich auf welcher Seite im Konfliktfeld diese Person auch steht oder stand.
Es geht darum: inwieweit habe ich der Pflege der Anthroposophie meinerseits nicht genügend Rechnung tragen können? Habe ich anderen möglichen Sichtweisen in inneren Erwägungen zur Sache genügend Raum eingeräumt? Oder habe ich etwa die andere Seite stillschweigend für aus meiner Sicht bestehende Mängel allzu schnell in Haftung genommen, ohne offen den Mut aufzubringen, für eigenes Versagen einzustehen?

Warum dies: Weil der so geartete michaelische Mut auf eigene blinde Flecken hinzuschauen in seiner Folge Bilde-Kräfte freisetzt, die in Selbsterkenntnis-Prozessen gleichsam kompostiertes Seelen-Material still in ein Verhalten umwandeln, auf dessen Grundlage im weiteren Verlauf dann von Fall zu Fall Lösungen für ein miteinander Weitergehen zu finden sind. Dass in dieser Hinsicht andere spirituelle Bestrebungen heute mitunter fortgeschrittener agieren, als dies bei nicht wenigen Anlässen innerhalb der AAG geschieht - auch ein Eingeständnis in dieser Richtung - könnte angesichts der Vorkommnisse um die diesjährige Generalversammlung am Ende einen Kraftzuwachs für die weitere Arbeit innerhalb der AAG nach sich ziehen. Zumindest könnte das Hinblicken darauf eigene dogmatische Festlegungen sichtbarer werden lassen und damit ihrer zeitnotwendigen Auflösung zuführen.
Radikales Aufwachen also aus einer Vielzahl unter dem Deckel gehaltener Illusionen. Mit Goethe gesagt: „Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“
Im Sinne Rudolf Steiners gesagt: nicht die Verwaltung des „Kulturerbes“, sprich des hinterlassenen Wortschaffens ist die Aufgabe unter „Hochschulperspektive,“ sondern der Erwerb einer in sich dynamischen michaelischen Haltung, welche für Mitglieder und Leitung im Sprechen zueinander erfahrbar werden kann. Also ins Leben gebrachte Anthroposophie. Die mittlerweile vergleichsweise wie automatisierte Sukzession auf Rudolf Steiner wäre also zu hinterfragen.
Und: Diese Anthroposophische Gesellschaft kann ihr Fortleben nur insoweit immer neu begründen und daraus Mehrwert schöpfen - sprich weiterhin finanzielle Mittel für sich in einem genügenden Umfang sicherstellen - als sie in ihren Mitgliedern und insbesondere in ihrer Leitung sich auf ein individuelles, im jeweiligen Lebensaugenblick zu gründendes Verwirklichen der Pflege der Anthroposophie zu stützen weiss. Mithin: alles Vorstellen über Anthroposophie ist zu verbrennen. Wenn Krisen zukünftig vorausgreifend gegriffen und bewältigt werden wollen, dann geht es um ein tätiges Hervorbringen von Anthroposophie im jeweiligen Lebensaugenblick.
Was bedeutet das: Sprechen und Denken in der Gegenwärtigkeit der Schwelle   zur geistigen Welt. Denn was Rudolf Steiner als Schwelle benannte und beschrieb, das ist unter mittlerweile nicht wenigen jüngeren Menschen unmittelbares Empfinden und Erfahren. Wer lauschend genauer hinschauen will, der erfährt es unmittelbar. Auf der Stirne einander sich begegnender Menschen steht wechselseitig heute vermehrt geschrieben: Erkenne Dich selbst. Und wo das nicht „beherzigt“ wird, dort kann es immer weniger zu tatsächlich menschlichen Begegnungen kommen, und krisenhafte Konflikte bauen sich unvermeidbar auf.
Die seelische Beobachtung ist heute als sozialgestalterisches Element gefragt. Aber genau diese von Rudolf Steiner seiner Philosophie der Freiheit zugrunde gelegte Methode ist vielleicht die am wenigsten geübte in der Pflege anthroposophischen Lebens.
Angewandt auf die verschiedenen vergangenen und gegenwärtigen Konfliktfelder kann sie deutlich machen, dass sämtliche Konflikte ein grundlegendes Muster in sich tragen. Sie sind, bei aller Verschiedenheit in der Ausgangslage, Produkte dual ausgerichteter Sichtweisen, einer mehr oder weniger weit und tief reichenden Vorstellungsverhaftung im Umgang von Mensch zu Mensch.
Vorstellungen aber - werden sie nicht beständig reflektiert immer wieder einer von innen her tätig zu bildenden Erneuerung unterzogen - haben es so an sich, zu Barrieren vor der Schwelle zu werden und ein begleitendes Empfinden zu verstärken: "Wir sind noch nicht so weit, die Schwelle zum unmittelbaren Erfahren des Geistes zu überschreiten." Sie verführen, je länger sie unverändert sich erhalten können, zu Schläfrigkeit und Mutlosigkeit, anstatt einer michaelischen Wachheit für den anthroposophisch zu gestaltenden Lebensaugenblick zum Durchbruch zu verhelfen. Und sie verleiten von dort her voraussehbar zu Kampfverhalten um die Oberhoheit der jeweils eigenen allein für richtig gehaltenen Vorstellungsperspektive.
Wer das bei sich nicht zu ändern weiss, „den bestraft das Leben.“

© Bernhard Albrecht Hartmann