Mittwoch, 13. Januar 2021

Blinde Flecken II

Blinde Flecken identifizieren im Nachgang zu Markus Gabriel. Ich erinnere, im ersten Teil dieses Beitrags habe ich mich auf die einleitenden Worte seines neuen Buches „Fiktionen“ (1) bezogen, „der Schein ist Sein …“. Da ich, was ursprünglich nicht vorgesehen war, dem schon Gesagten nunmehr eine Fortsetzung folgen lasse, so will ich den schon zitierten Gedankengang im Sinne der Überschrift dieses Beitrags noch etwas näher aufbereiten.
„Der Schein ist Sein“. Wer stösst auf ein Erstes hin nicht an diesem Satz an? „Der Schein  i s t  Sein.“ Der Schein hat sich unscheinbar seinen Weg zur Seins-Herrschaft gebahnt. Er hat in allzu vielen Bereichen dessen, was wir als Wirklichkeit betrachten sich wie selbstverständlich niedergelassen und das Ruder der Macht über uns übernommen. Welche Entfesselung der Schein bewerkstelligen kann, davon werden wir gegenwärtig alle Zeugen, in dem was Donald Trump auf der Weltbühne geradezu zelebriert. Er verleiht dem Schein Wirklichkeit und glaubt - er glaubt das  voll und ganz und ist insoweit keineswegs von der Rolle. Das was er sagt ist in seinen Augen auch tatsächlich so. Weil selbst als Person zur Gänze im Schein aufgegangen wird er zum Manifestor des Scheins im ganz grossen Stil.
Doch halt, „der Schein ist das Sein,“ wie steht es in dieser Beziehung mit einem jeden von uns hier?
Markus Gabriel: „Denn das Wirkliche ist dasjenige, zu dem  w i r  n i c h t   e r f o l g r e i c h  auf Abstand gehen können“. Wir gehen nicht erfolgreich auf Abstand weil der Schein sich dazwischen schiebt, wir durch ihn auf eine von ihm verfremdete Seins-Ebene umgelenkt werden. Wie kann das sein: Weil wir in Dialogen zumeist unversehens „eigene“ Vorstellungen als Filter unseres Verstehens einschieben. Wir gehen eher selten, also nicht selbstverständlich eine subjektfreie, tatsächlich anschauende Erlebnisverbindung mit dem Gegenüber ein. Denn eine derartige Verbindung kommt nur über die aktive Haltung von unserer Seite aus zustande. Sie stellt sich nicht von alleine ein. Sie ist willentlich hervorzubringen.
Schauen wir doch nur einmal unser alltägliches Grussverhalten mit Nachbarn oder beruflichen Mitarbeitern an. Welche Zahl wählen sie hier bei einer „strengen“ Rückbesinnung für eine jede Begegnung von 1 -10., wobei die 1 für >im Vorübergehen gerade noch wahrnehmen und sodann gleich wieder vergessen< und die 10 für >einen offenen und tatsächlich interessierten kurzen Dialog zum Befinden des anderen Menschen< steht. Wie sieht es also hier innerhalb der „scheinbar“ eher unbedeutenden Begegnungen unseres Alltags um die Qualität im Begegnen aus. Jeder dieser Menschen ist ein Mensch wie wir. Wie weit stellen wir ihm ein echt menschliches Interesse zur Verfügung? Und ich sage das hier nicht so von ungefähr, denn hier stellen wir in der Überwindung der Routine unsere tatsächliche menschliche Reife unter Beweis und nicht erst im Angesicht unter Freunden oder Gleichgesinnten.
Wenn wir hier aufmerksam werden, ist das dann nicht ein Hinweis dafür, dass wir für die Fussspur unseres eigenen „Erkenne Dich Selbst“ aufzuwachen beginnen? Dass wir salopp gesagt das vor uns selbstverdeckt gehaltene „Fremdeln“ überwinden? Denn wir treten heraus aus unseren individuell mehr oder weniger selbstbezogenen Verkapselungen, unseren diversen Bünden, seien es berufliche, weltanschauliche oder einfach nur Gewohnheiten und beginnen „den Menschen“ wahrzunehmen, der uns unscheinbar an einer jeden Strassenecke begegnet und uns diese oder jene Botschaft verdeckt zuträgt, uns in das „Hier und Jetzt“ durch seine ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten aufwecken will. Wie oft aber sind wir blind, Hand aufs Herz? Wie oft übersehen wir das leise Blitzen in den Augen eines vorüber gehenden Menschen oder deuten es falsch?
Die Scheidegrenze zwischen dem Schein, der sich gewissermassen selbst mit dem Schein des Seins etikettiert, der also den unbemerkten Schatten tatsächlichen Seins darstellt, ohne dass wir das auf Sicht hin überhaupt bemerken, wird demnach dort  b e t r e t e n,  wo wir zu dem Wirklichen „nicht erfolgreich auf Abstand gehen können.“ Das Sein verbirgt sich hinter dem Schein. Das Offenbare bleibt uns verborgen, weil wir nicht aktiv gewillt sind über unsere Ego-Vernebelungen hinauszusehen. Wir leben mit Markus Gabriel, solange wir uns nicht eine mehr durchgehende aktivere Haltung im Umgang  m i t  u n s  s e l b s t  aneignen, in einer „verdrehten Differenz von Sein und Schein (2).“
Der innere Abstand führt uns demnach nur an das Sein heran. Er verleitet uns jedoch damit nicht wenig dazu, dass wir gleichsam auf der dem subjektiven Schein wie gegenüberliegenden Seite, also im abstrakt formalen Hinschauen auf die Wirklichkeit in einer gänzlich anderen Art und Weise wiederum dem Schein verfallen. Erst in einer Überprüfung auch dieses Zustandes werden wir uns der ganzen Schwierigkeit immer deutlicher bewusst, was es heisst in einer scheinbar wie unabänderlichen Weise dem Zangengriff ausgeliefert zu sein, der uns wissen lässt wie sehr wir an dem Wirklichen hängen, „zu dem dem wir nicht erfolgreich auf Abstand gehen können“ - und das ist von dieser Seite her betrachtet der Schein des  N   i c h   t s.
Um das Nichts ist viel gestritten worden. Ich will von daher in diesen kaum zu überbietenden Streiten nicht eine weitere Lanze brechen, sondern auf den bis heute in meinen Augen unerkannt grössten Praktiker im Umgang mit dem Nichts verweisen, auf Sokrates. Er wusste nämlich die Menschen, mit denen er dialogisierend unterwegs war an ihr  i n n e r e s  E r f a h r e n  heran zu führen, „dass ich weis, dass ich nichts weis.“
Sokrates hat damit jene menschliche Grunderfahrung in einigen wenigen Menschen voraus genommen, die für die heutige Zeit die bedeutendste zu erringende Bewusstseinstat ist. Und damit stelle ich keine Behauptung auf, sondern verweise nur auf die Möglichkeit diese Erfahrung zu machen und zu sehen, was sich im Vollzug derselben an eigenem Erfahren einstellt. Der Wirklichkeit, die sich von dort her innerlich zeigt kann keiner entrinnen. Er kann nur bestimmen zu welchem Zeitpunkt er bereit ist sich dieser Wirklichkeit auf seine ureigene Weise zu stellen.
Angelus Silesius umschreibt diese Erfahrung so: „Wer nicht stirbt bevor er stirbt, der verdirbt.“ Mit anderen Worten geht es damit um die Preisgabe der eigenen inneren Selbstbilder und das Erfahren des langsamen inneren Auferstehen in die Kraft des Ich. Der dunkelste blinde Fleck im Menschen ist das Nichts und die Erfahrung, dass gerade dort das Ich ruht, bis ich es bewegt in Bewegung ergreife. Das  N  i c h  t s  ist der Raum des Willens, der grösstmöglichen schöpferischen Kraft des Menschen.

Bernhard Albrecht

(1) Markus Gabriel Fiktionen, Suhrkamp Verlag Berlin 2020, Einleitung S.17, 1. Absatz
(2) dito S.17, 3. Absatz