Montag, 20. Juli 2015

Von der inneren Umkehr (überarbeitete Version)

Unser Weltzugang ist in Folge langer Entwicklung und damit aus gefestigter Gewohnheit gemeinhin ein dualer. Einen anderen Menschen  s e h e n  und  a n  n e h m e n  lernen wie er ist, ihn sein lassen können, so wie das Leben ihn gerade jetzt sein lässt, das bedeutet einen steinigen Weg gehen. Denn was immer und überall mir in Bezug auf den anderen Menschen zunächst im Wege steht, ist, eine Vielzahl von Vorstellungen, die ich mir von der Welt gebildet habe und die ich nicht selten in Teilen dann auf den Menschen übertrage, der gerade vor mir steht.

Lauschen - machen wir uns diesbezüglich nichts vor, ist eine dem modernen Menschen, der aus seinen Lebensverhältnissen soviel eingelagerte Ruhelosigkeit in jede Begegnung unweigerlich zunächst mitbringt, Lauschen ist eine weit an den Rand unserer sozialen Lebenswelt gedrängte Fähigkeit. Sie ist in den Augen des Mainstream buchstäblich unter die Disteln des zu Vernachlässigenden geraten und steht den wenigsten Menschen heute noch in natürlicher Weise als handhabbare Handlungsmöglichkeit zur Verfügung. Auch wenn es in diversen Coach- und Manager Ausbildungen Angebote zum Erlernen und effizienten Handhaben des Zuhören gibt, so reicht das Lauschen gegenüber dem Zuhören doch sehr viel weiter und tiefer. Es nimmt gegenüber dem „Ist im Zuhörend Erfassten“ den Klang des Werdens, ein Ungeboren Werdendes im Umkreis gesprochener Worte in das Verstehen mit herein.

Wie aber kann es gelingen für den Klang des Werdens die rechten Worte zu finden? Ist doch schon das Tatsächliche meist nicht ganz leicht zu erfassen. Um wie viel schwerer  muss es sein, ein Werdendes, also ein bestenfalls in Teilen Sichtbares mit geeigneten Gedanken einen sprachlich Ausdruck zu verleihen. Und in der Tat ist dahin zu gelangen nicht ohne eine innere Umkehr zu erreichen. Ich muss mich nämlich auf nicht weniger als dieses einlassen, davon Abstand zu nehmen, die Welt ausschliesslich  unter meinem Blickwinkel zu betrachten. Von meinem jeweiligen Gegenüber her die Welt zu betrachten, mich in dessen Sichtweise auf die Welt einzuleben, an diesen unscheinbaren Schwellen entscheidet sich immer wieder auf ein Neues, ob in einem Gespräch durch mich ein aktiver Beitrag auf einen zu belebenden Humanismus hin geleistet wird oder eben unversehens nicht. 

Der Humanismus ist in unserem Weltwissen breit verankert. Ideelle Absichten ihn zu verwirklichen gab und gibt es landauf landab nicht wenig. Wie aber ihn in „alltäglichen“ Lebensverhältnissen lebendig zur Erscheinung bringen? Selbstkritisch betrachtet ist es eine immense Herausforderung, die gleicherweise immer wieder auch mit einem Scheitern verbunden sein kann. In einem angesichts eigenen Scheiterns beständig neu zu erringenden inneren Gleichgewicht gleichsam wachsend immer mehr Einsitz in sich zu nehmen, kann dies einen Weg zum Lauschen eröffnen? 

In mir Einsitz nehmen? Was soll das? Ist nicht der „Andere“ derjenige, der sich meinen Aussagen verstehend widersetzt? Wenn schon scheitern, ist dieses Scheitern dann nicht der „Dickhäutigkeit“ im Auffassen von Argumenten meinem Gegenüber anzulasten? Wenn differenziertes Sagen an ihm abprallt, was soll ich dann damit zu tun haben? So ähnlich läuft es doch in nicht wenigen Diskussionen, bzw. ansatzweisen Gesprächen, oder?  Werde ich von irgendetwas in dieser Art innerlich berührt, begegne ich da vor meinem inneren Spiegel nicht auch einer eigenen Dickhäutigkeit? Wie denn? Könnte es sein, dass ich bei der Untersuchung dieses Phänomens im Rahmen eines selbstkritischen Durchforschen innerer Seelenprozesse, im Auf und Ab, im Vollzug eines Gedankenaufbaus, auf zu fest gefügte eigene Vorstellungsbildungen stosse, die sich bei näherem Hinsehen als nicht oder wenig geeignet erweisen sich transparent in die Sichtweise des anderen Menschen einfügen zu können? Muss es bei derartigen Kommunikationsvorläufen dann verwundern, wenn die Resonanz ein Nicht-Verstehen nach sich zieht oder gar emotionale Ausbrüche lostritt? Erinnere Dich …

Eine Kultur des Lauschen, bzw. eine Fähigkeit dieser Art unter abgelagerten Schlämmen der vielfältig heute offen oder verdeckt zu Tage tretenden sozialen Spannungen, Brüche und Gegensätze zu befördern scheint mir eine Herkulesaufgabe zu sein. Der Augias Stall ist aufzuräumen und es mag befremden, wenn ich aus meiner Erfahrung heraus betone, dass es dabei nur um den jeweils eigenen Augias Stall geht, der aufzuräumen ist. Ändern kann nämlich nur ich mich. Ich kann und darf ein sich Ändern von Niemandem sonst erwarten. Pointiert gefragt, zielt die seelische Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode dann in ihren ersten Schritten nicht genau auf das Aufräumen des eigenen Augias Stalles? Oder unter einer anderen Betrachtungsweise gefragt, führt mich eine tatsächliche Bereitschaft zum Erwachen am anderen Menschen zunächst nicht ebenfalls erst einmal alleine durch meinen Augias Stall hindurch?

Besinne Dich … Und im Nachgang solchen Besinnens ist Zuwendung in sozialen Prozessen, denn Lauschen bedarf einer ausserordentlichen Ausprägung davon, nicht mehr und mehr zu einer Unmöglichkeit verkommen? Oder anders ausgedrückt, ist ein achtsamer Abstand zu sich selbst als Raum schaffende Gebärde für einen anderen Menschen im Aufnehmen eines Gesprächsfaden noch etwas, dem von der eigenen Haltung her Bedeutung beigemessen wird, etwas, das vom Augenblick der Eröffnung des Gesprächs an aktiv geübt wird? Geht es in den gedanklichen Austauschbewegungen unter Menschen, wenn auch sachlich verschleiert nicht eher um Selbstdarstellung, fern der Anwendung einer Hebammen Kunst im Sinne des Sokrates? …                      
                                          
Von Sokrates ist bekannt, er hätte es verstanden Menschen so anzusprechen, dass ein bis anhin gesichertes Verständnis auf einen bestimmten Sachzusammenhang hin in Fragen erneut virulent werden konnte. Die Frage als bewegendes Element. Die Frage als neue Horizonte öffnendes Element. Die Frage mithin als eine Möglichkeit Ungeborenes zur Geburt zu bringen. Die Frage als Wegöffner für Verborgenes im sprachlichen Ausdruck, das „Lauschen“ in die Sichtbarkeit bringen kann. Sokrates stand zu seinen Lebzeiten noch in einer inneren Nähe zu Heraklit. Nach Heraklit  konnte der um Lebenserkenntnis ringende Mensch aber nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Heraklit verstand das Leben als ein vielstimmiges Unisono Klanggeschehen, als ein auf den Menschen hin angelegtes unendliches Wortschaffen aus sich selbst heraus. Und nur der Selbsttätige konnte damals und kann heute „Einwohnung“ nehmen in diesem fort und fort Fliessgeschehen, in dem er z.B. mit dem Aufgeben wissenschaftlicher Standpunkte Wandlung in einer Weise signalisiert, die neue Sichtweisen und Zusammenklang-Verhältnisse ermöglichen.

Dass sich die heutige Wissenschaft durch viele Verschleierungen hindurch in einer mehr als ernsten Krise ihres Selbstverständnisses befindet, diese Erkenntnis weiter vor sich her zu schieben, kann aus meiner Sicht nur von Menschen bezweifelt werden, welche das „Erkenne dich Selbst“ in der Konfrontation mit den Gedankenbildungen, mit denen sie sich auf ihren Lebenswegen auseinander zu setzen haben durch die Flucht in immer neue Abstraktionen weiter glauben umschiffen zu können. Die moderne Quantenphysik bringt  eine Tatsache unmissverständlich an das Tageslicht des Bewusstseins, dass der Beobachter das Versuchsgeschehen durch seine Teilhabe daran verändert. Diese Ein-Sicht aber verändert das Verhältnis von Objektivität und Subjektivität und ihr paradigmatisches Verständnis im heutigen Wissenschaftsbetrieb nachhaltig. In meinen Augen zeichnet sich damit die Notwendigkeit eines grundsätzlich neuen Verständnisses im Hinblick auf das Denken ab. Das Denken als ein inneres Blickorgan, das Denken als ein durch das Ich sich selbst hervorbringendes Geschehen? Fragen, Fragen, Fragen, die im Sinne des Gedichtes von R: M. Rilke: 

                                                     „Was mich bewegt“


                                                  „Man muss den Dingen
                                                  die eigene, stille,
                                                  ungestörte Entwicklung lassen,
                                                  die tief von innen kommt,
                                                  und durch nichts gedrängt
                                                  oder beschleunigt werden kann;
                                                  alles ist austragen -
                                                  und dann
                                                  Gebären...

                                                  Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt
                                                  und getrost in den Stürmen
                                                  des Frühlings steht,
                                                  ohne Angst,
                                                  dass dahinter kein Sommer
                                                  kommen könnte.
                                                  Er kommt doch!

                                                  Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
                                                  die da sind,
                                                  als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
                                                  so sorglos still und weit ...

                                                  Man muss Geduld haben,
                                                  gegen das Ungelöste im Herzen,
                                                  und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
                                                  wie verschlossene Stuben,
                                                  und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
                                                  geschrieben sind.

                                                  Es handelt sich darum, alles zu leben.
                                                  Wenn man die Fragen lebt,
                                                  lebt man vielleicht allmählich,
                                                  ohne es zu merken,
                                                  eines fremden Tages
                                                  in die Antwort hinein.“

              
... eines schönen Tages durch mutige philosophische Denker, die sich nicht länger von den abstrakten Purzelbäumen eines Skeptizismus gegenüber allem und jedem oder den vor sich selbst nicht wahrgenommenen Versteckspielen des Reduktionismus den freien inneren Blick durch scheinbar kunstfertig gewobene Gedankenschleier versperren lassen, einer Antwort entgegen wachsen.  

Der kürzlich verstorbene Philosoph Wilfrid Jaensch war ein mutiger Querdenker in genau diesem Sinne. Sechs Wochen vor seinem Tod (1) spricht er, ausgehend von der Erklärung der Menschenrechte, von der Notwendigkeit einer Geisteswillenschaft. Was den Menschen in seinem Kern ausmache, was ihn in die Lage versetze sich als Mensch zu bezeichnen, das müsse dabei ins Auge gefasst werden. Und er gibt die verblüffende Antwort: „Erst wenn ich den anderen Menschen bedingungslos anerkenne, bin ich Mensch.“            

Weiter gedacht, bedeutet das nicht, dass ich nur insoweit zu einem Menschen sukzessive werden kann, wie ich „selbsttätig“ meine Vorstellungen, die sich zwischen mich und meine Mitmenschen immer wieder stellen mögen, stets aufs neue übersteige, bereit bin sie gleichsam zu „verbrennen,“ durch meine Verschleierungen wie hindurch zu treten? Klingt das in einem Europa, in dem in Bezug auf muslimische Mitbürgerinnen ein Verschleierungsverbot immer wieder gefordert wird nicht sehr irritierend? Die europäische Menschheit in ihrer Gesamtheit unter dem Schleier. Dieses Bild, ohne wenn und aber innerlich einmal zugelassen, zeigt in meinen Augen welche immense Aufgabe mit einer Geisteswillenschaft verbunden ist, welches Vermächtnis uns da Wilfrid Jaensch hinterlassen hat.                                                

Ich höre darin die Aufforderung, dass es an der Zeit ist die Erforschung der inneren Kraftgestalt im Denken gleicherweise wissenschaftlich, wie sozial ästhetisch, forschend und praktisch in die Hand zu nehmen. Fragen, die nicht nur Renè Descartes zu seiner Zeit anhaltend beschäftigt, sondern schon Aristoteles geleitet haben. In den Tiefen des eigenen Denkens abgelagert, zeigt sich diese Kraftgestalt meiner inneren Anschauung und Erfahrung nach mehr als widerspenstig, sobald ich auch nur anfänglich Fragen in der Richtung stelle, auf welchem Boden stehe ich eigentlich, wenn ich denke. Hat das Denken überhaupt einen Boden oder ist es von vorne herein widersinnig im inneren Blicken auf das Denken von einem Boden zu sprechen?  Kann eine Kraftgestalt Boden geben, wenn es sie in Bezug auf das Denken denn überhaupt geben sollte? Dies alles und Vieles mehr scheinen mir Fragen zu sein, die sich aus den Wurzelfragen Rudolf Steiners seiner Einleitung zur Philosophie der Freiheit heute stellen und differenziert weiter entwickeln lassen.                       

Im Zuge der vorgesehenen Herausgabe der Erkenntniswissenschaftlichen Schriften Rudolf Steiners im Rahmen der Steiner Kritischen Ausgabe (SKA) durch Dr. Christian Clement im Verlag fromann- holzboog stellt sich mir die weitere Frage, welche die Bewertung Rudolf Steiners im Verhältnis zu Immanuel Kant ungemein versachlichen könnte. In der Vorrede zu seinem Frühwerk, „Gedanken zu der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“ spricht Kant seine Leser wie folgt an: „Ich glaube, ich habe Ursache von dem Urteile der Welt, dem ich diese Blätter überliefere, eine so gute Meinung zu fassen, dass diejenige Freiheit, die ich mir herausnehme, grossen Männern zu widersprechen, mir für kein Verbrechen werde ausgelegt werden. Es war eine Zeit, da man bei einem solchen Unterfangen viel zu befürchten hatte, allein ich bilde mir ein, diese Zeit sei nunmehr vorbei, …“        

Rudolf Steiner hat eine Reihe erkenntniswissenschaftlich philosophischer Schriften verfasst und darin neben Kant so manchem anderen Denkern widersprochen, gewagt diese in der einen oder anderen Weise weiter zu denken.  Im Sinne der Freiheit hat er damit aber nicht weniger als Kant seinerzeit ausgedrückt, es möge ihm dies nicht als Verbrechen ausgelegt werden. Nun, Kant hat mit dem genannten Frühwerk zunächst auch nicht den Erfolg gehabt, den er sich vielleicht erhofft hatte. Professor in Königsberg wurde er erst nach langen Jahren des Hauslehrer Daseins. Diesbezüglich teilt Rudolf Steiner also in gewisser Hinsicht ein Schicksal der Nichtbeachtung mit ihm. Im Zuge der Herausgabe der SKA frage ich mich, ob diese Zeit jetzt vorbei ist und seine Gedanken nunmehr in einem „Blick von Nirgendwo“ von der akademischen Wissenschaft einer umfassend sachlichen Bewertung entgegen sehen können oder Neulande zumindest mit forschenden Fragen an sein Denken betreten werden.                            

„Der Blick von Nirgendwo“ ist der Titel eines Buches des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel. In seiner Fragehaltung ein erfrischendes Buch im sokratischen Sinne. Es wäre sehr zu begrüssen, wenn eine Fragehaltung wie sie Thomas Nagel in diesem seinen Buch pflegt im Umgang gerade mit den erkenntniswissenschaftlich, philosophischen Gedankengängen Rudolf Steiners von Seiten der Wissenschaft Schule machen könnte. Lausche ich in die Wortfolge: „Der Blick von Nirgendwo,“ im Sinne des gleichnamigen Buches des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel (2) hinein, so führt mich das unmittelbar an die erkenntniswissenschaftlichen Zeitfragen, die Gedankenzäune heran, wie sie Thomas Nagel im gegenwärtigen wissenschaftlichen Denken transparent zu machen weiss. Es weisst mich aber auch, um es vorsichtig auszudrücken, auf ein Versäumnis in anthroposophischen Zusammenhängen hin, die dynamische Kraft im erkenntniswissenschaftlichen Denken Rudolf Steiners angemessen zu würdigen und weiter zu entwickeln.                                   

Versuche in dieser Richtung wurden von einem breiten Mainstream, hier nicht weniger wie im öffentlichen Raum der Wissenschaft, immer wieder in Randnischen abgedrängt. Was im wissenschaftlichen Raum, aus meiner Sicht bis heute, eine Tabu Zone bezeichnet, die „mögliche“ Kraftgestalt des Denkens einer wissenschaftlich forschenden Untersuchung zuzuführen, wurde auch hier wie nebenbei zu Tabu Zone erklärt. Die Philosophie der Freiheit und die damit verbundenen seelischen Beobachtungen „nach naturwissenschaftlicher Methode“ wie sie Rudolf Steiner in einer e r s t e n  Versuchsanordnung auf den Weg brachte, fand auch hier nicht die Beachtung, wie er es   sich ursprünglich erhofft hat. Und damit wurden Philosophische Denker wie zum Beispiel Herbert Witzenmann und Wilfrid Jaensch als Entwicklungsfermente in Randzonen abgedrängt. Tragischer Weise, so erscheint es mir jedenfalls, wenn ich mir die gegenwärtigen internen  Auseinandersetzungen in anthroposophischen Zusammenhängen um die SKA anschaue, hat das duale Denken hier also nicht weniger Kraft, als im wissenschaftlichen Raum. Doch wenn ich mich besinne, war das duale Denken zu überwinden nicht das Grundanliegen Rudolf Steiners? Wo stehe ich also, wo stehen sie geneigte Leserinnen und Leser dieser Gedankengänge, wenn sie sich nach innen lauschend auf sie einlassen wollen?                            

„Der Blick von Nirgendwo,“ hier nunmehr zum vierten Mal aufgegriffen, er verweist mich auf ein äusserst dynamisches Denken, ein in sich bewegliches Denken, ein Denken, das sich beheimatet gewissermassen in einer Nullzone, ein Denken, welches die Illusion des Nichts als eine Membran des unendlichen Regresses innerlich umstülpt und damit mehr und mehr Zugang findet zu einer wachsenden inneren Kraftquelle. In diesem Denken  treten die Begriffe „subjektiv“ und „objektiv“ als Hervorbringungen eben dieses Denkens in Erscheinung. Sie als dual ausgerichtete Grenzpunkte des wissenschaftlichen Forschen zu betrachten geht also nur insoweit und so lange wie die selbsttätig hervorbringende Kraft, ein bewegt in Bewegung sich fort und fort selbst dynamisierendes Denken aus dem wissenschaftlichen Forschen ausgeblendet wird.    

Geht damit aber nicht aller Halt und alle Sicherheit verloren? Die Möglichkeit im wissenschaftlichen Diskurs sich hinter mehr oder weniger klaren Positionen zu verstecken und den jeweiligen Kontrahenten sachlich verbrämt der Lächerlichkeit zuzuführen, wenn dieser nicht im jeweils stillschweigend vorgegebenen Sinne systemkonform denken sollte, diese Möglichkeit, sowie die aus ihr abgeleitete Sicherheit wird auf Dauer nicht mehr Bestand haben können. Die Löcher in der eigenen Deckung, folge ich hier dem einen oder anderen Gedankengang von Thomas Nagel, werden mit weiteren Verschleierungen nur noch befristet abzudecken sein. Streitbare Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft dieser oder jener wissenschaftlichen Systemvariante scheinen mir der Vergangenheit anzugehören.                        

Auch wenn sich Beharrung in Überzeugungen auf vielen Ebenen menschlicher Kommunikation aus den unterschiedlichsten Gründen nicht selten anhaltend zu behaupten weiss, so scheint sie mir über ein im kommunikativen Tagesgeschäft gelegentliches  Ärgernis hinaus zu weisen. Denn, kann dem Begriff Beharrung nicht Bewegung gleichsam entgegengesetzt werden? Wo also Beharrung sich in menschlichen, bzw. wissenschaftlichen Auseinandersetzungen breit macht, könnte das nicht ein Hinweis darauf sein, dass über alle Parteiungen hinweg  sich zu wenig selbsttätige Denkkraft wirksam und authentisch bezeugt? Zeichnet sich in derartigen Phänomenen nicht zumindest indirekt eine Herausforderung ab dem Hervorbringungsaspekt des Denkens erfahrungsbasiert mehr Aufmerksamkeit entgegen zu bringen?                  

In meinen Augen stehen wir vor der Notwendigkeit einer grundständigen wissenschaftlichen Sichterweiterung. Es geht von der Seite der äusseren Wissenschaft, wie in internen Auseinandersetzungen von Menschen, denen Anthroposophie ein Anliegen ist, mit der Herausgabe der SKA nicht mehr um wissenschaftliches Denken kontra geisteswissenschaftliches Denken, sondern um eine existentiell erneuerte Sicht „auf das eigene Denken hin,“ mithin eine rundum zu erneuernde Denkhaltung und daraus zu entwickelnde, lebendig zu bezeugende neue Wissenschaftsgesinnung. Im Sinne von Wilfrid Jaensch bedeutet das aber auf den anderen Menschen zugehen, selbst wenn dieser konträr zum eigenen Denken steht. Gelebter Respekt dem fremden Denken gegenüber und ein aus dem Respekt heraus wachsendes Vermögen zu einem „Erkenne Dich selbst“ am fremden Denken, dies allein kann aus meiner Sicht für die kommende Zeit Freies Geistesleben lebendig bezeugen.                    

Sokrates prägte seinen Schülern gegenüber den Satz: „Ich weis, dass ich nicht weis“. Der Zusammenhang dieses Satzes mit dem Umstand, dass Sokrates späterhin sich nicht dem Tod durch den Schierlingsbecher entzog, obwohl er dies gekonnt hätte; die nach innen lauschende Beschäftigung mit diesem Zusammenhang hat mich für die gegenwärtige Zeit zu einer bestürzenden Erkenntnis geführt. Ich kann die ganze Kraft, die in dem Satz: „Ich weis, dass ich nicht weis“ gebunden ruht nur insoweit für mich frei setzen, wie ich bereit bin den Schierlingsbecher zu nehmen und mit ihm das Gift unangemessener Vorstellungen in meinem Denken gegenüber anderen Menschen verbrenne, bzw. in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen die Abstraktionen innerlich in Denkkraft Erfahrungen zu transformieren weiss.

© Bernhard Albrecht Hartmann 20.07.2015

(1)  www.enzyklika.blogspot.de (unter Apr 30 Geisteswillenschaft)
(2)  Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2035, 1. Auflage 2012

Mittwoch, 15. Juli 2015

Eine Anmerkung zu Mieke Mosmullers Blog-Eintrag: Das dreifache spirituelle Ideal des Menschen

Wenn der Materialist nur für Sekunden sich einmal darauf einlassen wollte, das, was er in abstraktem Selbst-Illusionieren  an Bewegungsgeschehen im Protonenbeschleuniger des europäischen Kernforschungszentrums in Genf technisch veranlasst, im eigenen Bewusstsein für einen Augenblick als Erfahren zuzulassen, wenn er sich ermutigen könnte an dieses Geschehen erfahrend heran zu treten, er würde bis ins Mark hinein erblassen und womöglich ohnmächtig zusammenbrechen vor der Bewegungsmacht, die er, ausschliessend von seinem Ich im Ego gebannt hält.
Wenn Menschen, die nach ihrem Erleben sich einer Anthroposophie oder einer anderen massgeblichen spirituellen Zeitströmung zugeneigt empfinden, nicht den Krieg untereinander bereit sind zu beenden, dann wird all ihr Bemühen für einen erweiterten Wissenschaftsbegriff in heutiger Zeit einen Beitrag zu leisten ins Leere laufen. Denn eine vermeintlich nicht zu umgehende Auseinandersetzung mit anderen Menschen um „die Wahrheit“ vernebelt das entscheidende Geschehen, um das es eigentlich geht, die Furcht vor dem Sprung über den Abgrund, von in Abstraktionen erstarrten Ego-Anhaftungen in den Bewegungsfluss des Ich zu meistern.
Barmherzigkeit für den anderen Menschen fängt bei der Barmherzigkeit gegenüber mir selbst an, bei dem inneren Loslassen ich müsse einem anderen Menschen den Weg zur Wahrheit weisen. Wahrheit findet ein anderer Mensch ganz aus sich, je mehr ich meine Ego-Verhaftungen bereit bin zu lösen. Gelingt es mir einem anderen Menschen, der mich um der Wahrheit Willen heftig attackiert dennoch Respekt zu erweisen, dann ist dies der Beginn möglicher Barmherzigkeit vom Herzen her.
Wir leben nicht mehr im Mittelalter, sondern in einer Zeit, in der es um die innere Ausbildung einer Bewusstseinsseelen-G e m e i n s c h a f t  geht.

Bernhard Albrecht

Im Vorbeigehen einem alten Herrn zugesprochen

Vergesslichkeit ist nicht selten ein beklagter Selbstausdruck, wo eigene Anhaftung an die Erinnerung vergangener schöner Tage die Wirklichkeit vernebelt. Der Mensch ist ein sich entwickelndes Wesen. Wohl dem, der sich zu jeder Zeit erneut auf Reisen begeben kann dies Wunder Mensch immer wieder neu zu erkunden. Manch einer hat schon ein Leben lang neben einem „Schatz,“  auf hohem Level in sich verhakt vor sich hin gelebt, ohne auch nur in die Nähe dieses Schatzes an seiner Seite gelangen zu können, dessen verschleiert „an ihn gerichtetes Sagen“ in seinen Tiefen wirklich aus zu loten. 

Manch einer erkennt erst am Ende seines Lebens, dass er trotz nicht weniger Mühen, die er aufgewendet hat, die Welt des anderen Menschen zu verstehen, er den eigenen Gartenzaun Blick des stillen Vorurteils nicht bewältigt hat, mit dem er sich den Zugang zu der Welt des anderen Menschen letztendlich immer wieder selbst verstellt hat. 

Auf solchen Wegen baut sich nicht selten eine Schimäre vom Sein des anderen Menschen auf, die leichthin betrachtet und scheinbar schwergewichtig durch dies und das untermauert als Wirklichkeit gelten mag und doch ein Produkt eigner Selbstillusion ist. Der wirklich unbefangene Blick auf den mir nahen Menschen an meiner Seite ist eine der schwersten Lebensübungen, die uns als Menschen auferlegt wird. Und das nicht ohne Grund. Denn nicht anders als durch diesen mitunter sehr harten Widerstand können wir zu uns selbst erwachen. Am Widerstand des Du bildet sich die Erfahrung eigenen Ich - Werdens.

Ich kann wunderbar in einer planetarischen Meta Welt kreisen und dort in stiller (selbstverliebter) Selbstherrlichkeit residieren und wenn das nicht mehr geht z.B. im schwarzen Humor letztendlich nur mich selbst bedauernd mir eine Selbstbescheidung und Schein - Freiheit vorgaukeln, die Lebenslüge ist. Lebenslüge von der Art, die schon Platon in seinem Höhlengleichnis mehr als deutlich benennt.
Dem mir nahen Menschen an meiner Seite einmal für seine Treue zum Lebenswiderstand  zu danken, ist vielleicht eine etwas ungewöhnliche Sicht, aber bei Bereitschaft zum Einlassen auf diese Sicht auch ein Torbogen zu neuer Lebenskraft. Mit Herzenstakt gepaart sogar eine Möglichkeit zu mehr gemeinsamer Lebensfreude erneut hinfinden zu können.

Nichts für ungut für diese deutlichen Worte an dieser Stelle! Ein schriller Pfiff, bevor der Karren endgültig an der Wand zerschellt. Es ist nie zu spät von eigenen umnebelten Sichten Abschied zu nehmen. Und ... Möglichkeiten Liebe zu bekunden sind auch in scheinbar mehr als verfahrenen Situationen immer gegeben, es sei denn ich will den Stoffel in mir zum inneren Gott meiner letzten Lebenstage erheben.
Ich wünsche von Herzen allen erdenklichen Mut!

© Bernhard Albrecht Hartmann, 15.07.2015