Donnerstag, 20. April 2017

Unter der Platane - Ein Dialog über die Zeiten hinweg im zeitlosen Nullfeld, Teil III

Kretos: (Aus dem Schlaf hoch fahrend) Was tönte da an mein Ohr? 
Rief mich da nicht jemand sehr eindringlich?
Aristoteles? ...
Ich will, ... ich muss nach ihm sehen.
(Während er sich bekleidet klopft es leise an der Tür)

Phöbus: Welch ein Glück, Kretos, Du bist wach und ich muss Dich nicht wecken. Aristoteles bat mich Dich noch einmal zu rufen, er habe Dir noch Wichtiges anzuvertrauen.

Kretos: Ich bin bereit, wir können sogleich gehen.
Noch ehe Du an meine Türe klopftest, bin ich nämlich aus dem Schlaf erwacht, weil mir war, als ob mich Aristoteles gerufen hätte. Ich wollte soeben von mir aus nach Ihm sehen.

Phöbus: Das wundert mich vor dem, was ich parallel zu Dir erlebte überhaupt nicht. Diese Nacht hat es in sich. Einerseits ist sie in einer Weise sternenklar, wie ich es hier vorher noch nie erlebt habe, andererseits geht ein Schauer wie durch mich hindurch, der mich ängstigt.
Aristoteles hat sich, seit er uns gemeinsam entliess, selber nicht zur Ruhe begeben. Er ging fast die ganze Zeit in dem grossen Raum auf und ab.
Wenn ich ihn von der offenen Türe her bei meinem Rundgang durch das Haus leise beobachtete, dann sah ich ein Leuchten von seiner Gestalt ausgehen, das um ihn herum den Raum  mehr und mehr unscheinbar erfüllte. Auch war es mir, als ob er in gewissen Augenblicken wie über sich hinaus wachsend an Grösse zunahm. Ich musste mir mehrfach die Augen reiben. War das noch Aristoteles, den ich da sah? Was ging da vor sich?
Schaute ich späterhin wieder nach ihm konnte ich ihn wie zusammengekrümmt in seinem Lehnstuhl sitzen sehen. Seine Augen waren dann von einem Schmerz umflort, der mich erschauern lies. Ich war schon im Begriff zu ihm hinein zu gehen, weil mich sein Zustand beunruhigte, hielt mich aber ein jedesmal wieder zurück, weil ich nicht wusste, wie ich mit dem allem, was ich sah, umgehen sollte.
Bis zu dem Augenblick, da er aus seinem Lehnstuhl aufblickend mich in der Türe stehen sah. Er lächelte und winkte mich zu sich herein. Meinen Kopf zu ihm neigend, flüsterte er mir zu. Rufe mir bitte Kretos, ihn alleine, denn ich habe ihm noch Wichtiges für die kommende Zeit zu sagen. So bin ich also zu Dir geeilt, um Dich zu holen.

Aristoteles: Ich sehe, dass Du meinen Ruf gehört hast, mein lieber Kretos. So lass uns an dem Fenster gemeinsam Platz nehmen, durch das die Morgensonne uns begrüssen wird.
(Und nach einer Weile des Nachsinnens, ...)
Was ich Dir jetzt sagen will, fällt mir alles andere als leicht. Gebe ich damit doch eine Last an Dich weiter, die ich seit den Tagen, da es zum Bruch zwischen mir und Platon kam, immer wieder Schmerz geplagt, mit mir herum trage.

Kretos: Seit jenem Gewitter Nachmittag auf der Akropolis habe ich mich in den Jahren, in denen wir uns nicht mehr begegneten, so manches Mal gefragt, wie geht wohl Aristoteles im Nachhinein mit diesem Geschehen um? Sie waren doch Freunde im besten und tiefsten Sinne des Wortes. Platon war über seine anfänglich väterliche Rolle Dir gegenüber weit hinaus gewachsen, er war Dir zum Freunde geworden. Es schien mir im Rückblick, als ob er Dich heimlich gerne als seinem Nachfolger gesehen hätte und nur damit zögerte dies offen auszusprechen, weil Du kein Bürger von Athen warst.
Er suchte deswegen sogar mehrmals die Ratsversammlung von Athen auf.
Ich weis es definitiv, da ich in diese Versammlung hinein von anderer Seite über eine Verbindung verfügte.

Aristoteles: Was Du nicht sagst, Kretos. Du bist wirklich sehr diskret im Umgang mit Hintergrundwissen über Deine Freunde. Du schweigst, wo es nicht an Dir ist darüber zu sprechen. Und eben das schätze ich an Dir so. Du lässt Dir die Hintergründe von dem angelegen sein, was Du siehst und, Du hörst tiefer in die Worte hinein, die zu Dir gesprochen werden.
Weil dies so ist und aus keinem anderen Grund nahm ich Dich, wo ich nur konnte, so gerne mit. Und übergab Dir auf diesem Wege das Vermächtnis meines praktischen geistigen Arbeitens, das in der Lage zu verstehen nur Du warst. Keiner meiner Freunde hat dies so verstanden wie Du. Nur deshalb konnte sich über die Jahre der Trennung hinweg unser beider Weg zu einem Weg der Geistes-Gefährtenschaft hin entwickeln. Gefährten sind in sich und von einander unabhängig.

Kretos: Das ist wohl so. Wenn ich zurückblicke, dann starb ich nach unser beider Auseinandergehen in Folge Deiner Trennung von Platon tausend innere Tode. Ich wurde damit nämlich auf eine sehr schmerzhafte Weise in die Eigenständigkeit wie hinein geworfen und musste das alleine auf mich gestützte Gehen und Sprechen buchstäblich wie neu lernen. Das dauerte …
Erst Jahre später bekam ich bei einem Besuch von Daphne in meiner Steinhauer Schule, die ja heute eine von drei weiblichen Meistern unter uns sieben ist, eine Rückmeldung von ihr, die mich beinahe aus den Schuhen hob und mir meine innere Meisterschaft überraschend und nicht weiter zu verbergen vor Augen führte.
Nachdem sie lange versonnen vor einer schreitenden Nike gestanden hatte, sagte sie unvermittelt zu mir: Flügelschlag, Handbewegung und Füsse verbinden in der Bewegung Himmel und Erde in nicht nachzuahmender Weise. Ich sehe Dich hier frei geworden über die Marktplätze von Athen schreiten, mit dem stillen Lächeln des Aristoteles im Hintergrund.

Aristoteles: Das genau ist die grosse Qualität von Daphne, sie kann Zusammenhänge mit wenigen Worten auf den Punkt bringen, um dann wieder wie im Nichts zu verschwinden. Sie scheint wie träumend durch die Welt zu gehen und ist untergründig doch immer hoch präsent. Sie sieht wo die grosse Mehrzahl ihrer Zeitgenossen nichts sieht. Sie zaubert buchstäblich hervor, was andere übersehen und das was sie dann anspricht ist von Wichtigkeit, um nicht zu sagen immer bedeutsam. Sie ist eine Repräsentantin beredten Schweigens.

Kretos: Das sehe ich genauso. Doch bewegt Dich im Grunde Deines Herzens etwas ganz anderes, das Du im Meer des Schweigens, wie mir scheint, schon viel zu lange zurückhältst. Wir kennen uns jetzt 40 Jahre, also beinahe ein ganzes Leben lang. In dieser Zeit habe ich gelernt die Sprache Deiner Augen zu verstehen.
Was bedrückt Dich also wirklich? Was hat Dich die letzten Stunden nicht ruhen lassen, obwohl Du Dir Schonung hättest angedeihen lassen müssen? Warum hast Du mich so eindringlich gerufen, dass ich dies sogar im Schlaf vernahm, noch bevor Phöbus an meine Tür klopfte? Mich allein - ohne die Anderen? Was quält Dich?

Aristoteles: Du bist wirklich ungemein feinfühlig. Deinen Augen und Ohren entgeht wirklich gar nichts. Du hörst und siehst, auch wenn Du Dich nicht in meiner unmittelbaren Nähe befindest bis in mein Herz hinein, erspürst meine feinsten Schwingungen.
Du weisst als einziger, abgesehen von Platon, wie ich mich jahrelang gegenüber der Schule von Eleusis sehr bedeckt verhielt, weil ich nur so dem Neuen, wie ich es aus dem Welten-Logos ablas, hoffen konnte einen Weg zu öffnen. Vor dem Mysterien-Hintergrund der Schule von Eleusis ging ich damit einen hoch riskanten Weg.
Und das um so mehr, als ich ursprünglich Zugang zum innersten Kreis der Mysterien von Eleusis hatte und auf eine tief verborgene Weise diesem noch immer verbunden bin. Du weisst, in welche Verantwortung Du Dich da hineinstellst.

Kretos: Wenn ich es recht bedenke, so habe ich Dich seit unserem gemeinsamen Aufstieg mit Platon zur Akropolis nicht mehr in einer derartigen inneren Verfassung erlebt. Deine nachtschwarzen Pupillen sind mächtig geweitet und befeuert von einem goldgelben Licht, das eine innere Stärke zum Ausdruck bringt, die ausgehalten sein will. Was steht also so unbedingt zur Entscheidung an, dass es nicht mehr bis zum Morgen in gemeinsamer Runde warten kann?

Aristoteles: Die Morgensonne wird für mich den Weg über die Brücke ins Licht freigeben und mein Ansinnen für eine Erneuerung der Mysterien in künftigen Zeiten den Augen der All-Durchsicht übergeben. Einen gemeinsamen Morgen mit euch Sieben allen zusammen wird es nicht mehr geben. Mein lieber Kretos, lass uns also die mir noch verbleibende Zeit nutzen und miteinander reden.

Kretos: Und Du, du  … lächelst mich dabei gütig an! …

Aristoteles: Das Leben wird doch nur grösser und weiter im Schreiten über diese Brücke hinweg. Es ist nicht düstere Unterwelt oder begrenzte Oberwelt, nicht Diesseits oder Jenseits, das Leben ist durchleuchtete Gegenwart in Bewegung. Arbeiten wir also bis zuletzt daran, dass dieses Lebensverständnis in der Zukunft sich wirkkräftig in uns und unter den Menschen um uns ausbreiten kann.
Sich in und mit dem Denken zu bewegen ist nicht gerade eine beliebte Kunst. Auch wenn ich den Peripathetos, den fliessend bewegten Schritt im Denken lange geübt und dies später im Umgang mit meinen Schülern fortgesetzt habe. Zu einer in sich stabilen Fähigkeit ist diese Art des sich Bewegens nur in wenigen Menschen herangereift. Auf der Höhe des „Aktus“ sich zu halten oder diese Höhe auch nur anzustreben ist nach wie vor furchteinflössend. Du bewegst Dich da im Raum des "ich weiss," dass ich Nicht weiss. Dem inneren Erfahren von da her geht jedesmal so etwas wie ein Sturz in die totale Dunkelheit voraus. Hier erfährst Du, was Freiheit wirklich ist. Gelebte Verantwortung ganz alleine aus Dir heraus.
Selbst Platon hat mich da nicht wirklich verstanden. Ich bin ihm aber meinerseits zu grossem Dank verpflichtet, denn ohne seine Denkweise hätte ich meine frühen Mysterien Erfahrungen nicht verarbeiten können. Die innere Bewegung dieser Erfahrungen musste in eine neue Form gegossen werden, die ich im Denken, das Platon so weitreichend und in die Tiefe gehend entwickelt hatte schliesslich fand. Ich konnte den inneren Bewegungsmodus des Denkens, seine freie Selbststeuerung aus dem Aktus heraus mir in voller Transparenz zur Anschauung bringen.
Ein Weniges davon habe ich euch davon ja berichtet. Soweit das überhaupt möglich ist.

Kretos: Ja das hast Du. Nachdem Du uns ein erstes Mal von diesen Deinen Erfahrungen berichtet hattest, fragte ich mich, warum erzählt er uns nicht mehr darüber. Mittlerweile weiss ich aber durch eigene Erfahrung, dass dies nicht sinnvoll ist.

Aristoteles: Ihr verfügt alle, ein jeder auf seine Weise über derartige Erfahrungen. Lasst nicht nach sie an der Unbestechlichkeit eures Denkens zu prüfen und ihr werdet immer tiefer auf den Grund des Seins hin vordringen. Die Logik, wie ich sie entwickelt habe, kann euch dabei Leitlinie sein. Jedoch nur so lange, wie ihr euer Forschen aus dem Fluss des Peripathetos heraus voranbringen wollt. Verliert ihr den Kontakt zum inneren Fliessgeschehen im Denken kann die Logik zu einem Sperrriegel werden, verhüllen sich die Mysterien des Geistes vor euren Augen.

Kretos: Dass wir dieses Fliessende im Denken nicht aus den Augen verlieren, dafür wird unter uns Sieben schon Kore die Erinnerung beständig hochzuhalten wissen. Wie „sie“ geht ist nämlich ein einzigartiger Ausdruck eines permanenten Fliessgeschehens. Sie schreitet über den Erdboden ohne in ein Schweben abzuheben und hält auch in den überraschendsten Lebenslagen von innen her den ungebrochenen Kontakt zum Boden. Sie ist bis in die Fussspitzen hinein in ihrem Tun präsent, was ich in dieser Weise von Niemandem, den ich gegenwärtig kenne, so sagen könnte.

Aristoteles: Ja, Kore ist in dieser Beziehung wirklich eine Ausnahmeerscheinung. Sie ist es darüber hinaus aber noch in einer anderen Weise. Sie kann von den einfachsten Gegenständen unseres Alltags her bis zu den tiefsten Rätseln des Seins Fragen stellen und fliessend offen halten.

Daphne führt Zusammenhänge aus dem Schweigen heraus auf den Punkt, Kore öffnet durch ihre Art des Fragens Räume für Entwicklungen, indem sie Begebenheiten mit den entsprechenden Fragen erneut in ein Fliessgeschehen einbindet. Ich möchte sogar sagen, ihre Fragetechnik übertrifft die des Sokrates bei weitem, weil sie nicht nur in die Höhen des Geistes, sondern auch in dessen Tiefen den inneren Blick weitet. Sie weiss Idee und Praxis durch ihr unmittelbares Wissen nahtlos miteinander zu verbinden.

Kretos: Und Saphira? Wenn ich mich nicht sehr täusche bist Du ihretwegen in den letzten Stunden nicht zur Ruhe gekommen.

Aristoteles: Du durchschaust mich wirklich in jeder Hinsicht. Um den heissen Brei herumzureden ist mit Dir nicht möglich. Mit grosser Wertschätzung lässt Du mich ausreden, um mir dann am Schluss zu sagen und „das da“ fehlt noch. Wolltest Du dazu nicht auch noch etwas sagen?

Kretos: Dich über Jahre hinweg über die Marktplätze dieser Welt begleiten zu dürfen, das hat mich zu dem gemacht, den Du heute in mir siehst. Ich wurde zum Auge und Ohr von Dir Aristoteles. Das hatte natürlich auch eine Kehrseite. Seitens gewisser Kreise aus der Schule von Eleusis wurde und werde ich nämlich seither der kleine Aristoteles genannt.

Aristoteles: Was Du nicht sagst. Es hat aber eine latente Überheblichkeit in Dir, wie ich sehe, verwandelt.

Kretos: Ja das hat es, denn die grosse Lebenszeit, die ich an Deiner Seite verbringen durfte, war gleichzeitig eine Herausforderung für mich meinen eigenen Lebensort in ein fortlaufend neues Gleichgewicht zu bringen. Das Erkenne dich selbst in einer Weise zu leben, die mich in die Selbsterfahrung führte wer ich selber bin. Es ist nicht leicht mit einem Grossen wie Dir Seite an Seite zu gehen.
Doch abgesehen davon, es erstaunt mich, wie Du davon wissen kannst, dass ich auf diese Weise bis heute hochgenommen werde, wo ich doch alles getan habe Dich dies nicht merken zu lassen.

Aristoteles: Das hast Du. Doch wenn ich mit der Schule von Eleusis äusserlich auch nicht mehr verbunden bin, so weiss ich doch, was intern dort so alles vor sich geht.
Schaue ich von heute auf mein Leben zurück, dann griffen Verhaltensweisen wie Du sie andeutest von Jahr zu Jahr mehr um sich und liessen neben den Schülern auch die Lehrenden immer respektloser das Wort führen. Es wurde zur Ware des Vermeinens und eitler Selbstbespiegelung. Da eine "tatsächliche" Verbindung zum Geistigen der Mysterien herzustellen sich als immer schwieriger erwies, wurde schliesslich mehr Zuflucht genommen zu visionär manipulativen Vorgehensweisen, um sich den Anschein einer Geistverbundenheit zu erhalten. Der Körper wurde auf die eine oder andere Weise überbeansprucht, anstatt in ihm den Leib, die mikrokosmische Wohnstatt des Geistes zu sehen und von daher sorgsam mit dem Leib  umzugehen.
Das Wort aber ahndet dergleichen Verhalten beinahe auf dem Fusse, indem es den unmittelbar lebendigen Zugang zu seinen Mysterien verdunkelt.

Kretos: Höre ich das richtig? Du scheinst mir mit diesen Worten, wie nebenbei, eine völlig neuartige Deutung des Mysterien Verrates zu vermitteln.

Aristoteles: Du hast ganz recht verstanden. Nicht was aus den Mysterien heraus nach aussen gelangt und öffentlich wird bewirkt den Mysterien Verrat, sondern wie du in diesem Zuge das Wort führst. Der Wesensgrund des Logos ist durch und durch fliessende Bewegung.
Nur wenn ich meinerseits die Hürde auf diesen Grund zu peripathetisch bereit bin zu meistern, können sich mir die Mysterien immer tiefer eröffnen. Kann ich diese Kraft der Bewegung hingegen im Umgang mit dem Wort innerlich nicht aktivieren, dann schliessen sich die Tore zu den Mysterien, bzw. können sich erst gar nicht öffnen oder erneut auftun. Die Menschen werden unversehens zu Mysterien Verrätern.
Ich sehe eine Zeit kommen, da wird das Erschrecken über das, was wir getan haben gross sein. Vielleicht ist aber gerade dies notwendig, bevor die Mysterien sich erneut öffnen können. Dann wenn eine grössere Anzahl von Menschen auf dem tiefsten Grund des Nichts angekommen sein werden.


Kretos: Es ist lange, sehr lange her, das Du in einer Deiner Vorlesungsreihen ausführlich über Ephesus gesprochen hast. Du sagtest damals, dass sich mit der Brandnacht dort die Tore zu den Mysterien des Logos schlossen.
Der Egoismus hatte in Deinen Worten die Kraft der Bewegung innerlich so weitgehend korrumpiert, dass das Wort aus sich selbst heraus immer weniger bewegt in Bewegung sich in seinem Mysterien Gehalt enthüllen konnte. Die Schüler der Mysterien waren nur noch selten in der Lage die mit dem Egoismus einher gehende Verdichtung des Leibes aus eigener Kraft zu durchdringen. Eine Verbindung zum lebendigen Logos-Walten liess sich damit zum Leidwesen vieler Lehrender auf Dauer hin gesehen nicht mehr aufrecht erhalten. Das Ende des Zugangs zu den Mysterien schien unumgänglich.  …

Aristoteles: Und in dieser höchst zerbrechliche Umbruchszeit in Eleusis trat Ich dann in Erscheinung. Das wolltest Du jetzt doch sagen, Kretos? Oder irre ich mich da?

Kretos: Nein, das tust Du nicht. Die Geschichte von Ephesus nach Eleusis fortgeschrieben, warst Du nämlich der Letzte, der in Eleusis völlig unerwartet, weil als Schüler vermeintlich viel zu jung, in den Prozess der höchsten Einweihung eintrat und … diesen Prozess abbrach.

Aristoteles: Du weisst, dass ich abgebrochen habe?

Kretos: Ja. Nicht von der Quelle des äusseren Geschehens her, sondern aus dem inneren Durchgang dessen, was Du uns selber von Deinen Erfahrungen im Heiligtum von Eleusis berichtet hast. Auch wenn Du uns in meinen Augen davon nur einen Bruchteil dessen erzähltest, was Du tatsächlich erfahren hast. Die wenigen Hinweise, die Du gegeben hast, vermittelten mir den mehr als hinreichend starken Eindruck, was Du tatsächlich erfahren haben musstest.
Ich konnte Deine Bestürzung, wie auch die Deines Begleiters innerhalb dieses Prozesses mehr als nachvollziehen.

Aristoteles: Dem kann ich nichts hinzufügen. Nach den für mich so bestürzenden Erfahrungen war es mein ganz grosses Glück, dass ich an die Akademie von Platon kam. Ohne die strenge Denkschulung dort hätte ich meine Erfahrungen wohl kaum so verarbeiten und in mein weiteres  Leben integrieren können. Das Wissen der Schule von Eleusis reichte dazumal nämlich nicht  mehr aus meinen Einweihungsprozess mit den durch ihn aufgebrochenen Fragen sicher zu einem Ende zu bringen. Die Lehrenden dort waren schlichtweg ratlos und taten alles um dieses Dilemma nicht öffentlich werden zu lassen, was auch weitgehend gelang.
Dass ich die Einweihung dennoch abschliessen konnte, dies ist mein ganz persönliches Verdienst. Erst Jahre später gelang es mir nämlich aus eigener Kraft die fliessend bewegliche Kraft des Denkens mir bewusst zu machen. An diesem Punkt meines Forschens angekommen verstand ich, was ich in Eleusis seinerzeit noch nicht konnte und mich demzufolge zutiefst erschütterte. In diesem von mir nunmehr errungenen Bewusstsein war der erste Schritt für eine Wissenschaft vom Geiste und darüber hinaus leise der Zugang für ein späterhin neu zu belebendes Mysterien Wesen getan.

Kretos: Dass man Dich, anfangs hinter der vor gehaltenen Hand des Mysterien Verrates bezichtigte, das geschah mehr aus Neid heraus, als aus dem tatsächlichen Wissen Du habest Mysterien Wissen verraten. Du hattest Dir eine unübersehbare wissenschaftliche Reputation erarbeitet, während die Lehre in Eleusis so vor sich hin dümpelte. Platon bekam durch Dich immer mehr Schüler, die Eleusis gar bald sehr fehlten.
Und so lag es auf der Hand mit den Jahren gezielt die Behauptung des Mysterien Verrates zu streuen. Dass Dich selbsternannte Mysterien Wächter in Athen nicht vor ein Anklage Tribunal bringen konnten, das verdanktest Du allein dem grossen Ansehen von Platon, der seine Hand über Dich hielt. Späterhin wagte dann niemand aus der Reihe dieser subversiven Wächter das Wort zu laut zu erheben, weil sie die Macht von König Philipp von Mazedonien fürchteten, in dessen Dienst Du getreten warst.
So kam es, dass erst mit dem Tod von Alexander dem Grossen, den Du posthum im Gespräch mit uns ja als einen uns gleichrangigen Schüler von Dir bezeichnet hast, dass erst dann diese Hitzköpfe den Mut hatten vor dem Hohen Rat in Athen die Anklageerhebung gegen Dich zu fordern. Ich bin froh, dass Du die Verhaftung voraussehend rechtzeitig hierher nach Euböa gereist bist, wo Du vor dem Zugriff aus Athen sicher bist.

Aristoteles: Welch ein Widersinn. So werden diejenigen zu Mysterien Verrätern, die per öffentlicher Proklamation meine Verhaftung als eine unbedingt notwendige Massnahme zum Schutz der Mysterien darzustellen versuchen. Menschen, die selbst über keinen eigenständigen Zugang zu den Mysterien mehr verfügen, können in meiner Person einen Weg diskriminieren, der eben einen Neuzugang zu diesen Mysterien eröffnen könnte.
Eitelkeit und Machtgehabe verschliessen das Tor zu den Mysterien. Die totale Verdrehung des Wirklichen.
Dabei gefährde ich doch niemandes Position innerhalb der Schule von Eleusis. Einige Menschen dort scheinen sich bedroht zu fühlen ohne einen handgreiflichen Grund vorweisen zu können. Sie haben Angst und machen diese ihre Angst an nicht haltbaren Gründen fest. Dass ich ein Mazedonier bin ist doch kein hinreichender Grund in mir einen Mysterien Verräter zu sehen. Hier wird aus einem emotional verdunkelten Denken heraus gearbeitet.

Kretos: Wenn ich die Mysterien tatsächlich schützen will, dann muss ich doch zuallererst an jenes Wort denken, das einem jeden Mysterien Schüler zu Beginn seines Mysterien Weges mit auf den Weg gegeben wird: "Erkenne Dich selbst."

Aristoteles: Und mit jedem Schritt auf diesem Weg wächst für den Mysterien Schüler die Verantwortung die Selbsterkenntnis aus dem "erkenne dich selbst" nur immer tiefer zu übernehmen. Das ist schmerzhaft. Sehr schmerzhaft sogar, wenn Dir die Endlichkeit Deiner Person immer bewusster wird. In Deinem inneren Fortschreiten kommst Du zu keiner Zeit an einen Punkt, an dem Du Dich in Bezug auf Deine Mysterien Erkenntnisse am Ziel angekommen fühlen könntest. Je länger Du vorwärts gehst, um so mehr siehst Du Dich mit der Anschauung konfrontiert ein Anfänger zu sein. Ich würde sogar sagen, der innere Anfängerstatus ist das Merkmal lebendiger Mysterien Schülerschaft schlechthin.

Kretos: Deine tägliche Herausforderung ist, beständig um die innere Gleichgewichtsbildung ringen zu müssen und dabei den Mut im weiteren Vorwärtsgehen nicht zu verlieren. Nur dem Mutigen können sich Mysterien Wege weiten, Ein- und Ausblicke vertiefen.
Ich habe es in den Jahren Deines Abstand Nehmens von mir mehr als deutlich erfahren müssen. Das war Kampf, ein beständig innerer Kampf im Medium des Denkens, des denkenden Kunstschaffens gegenüber dem hintergründig in diesem immer mächtiger zu Tage tretenden Fliessgeschehen des Logos nicht den Boden unter den Füssen zu verlieren. Dich nicht als Hineingeworfen in dieses Feld zu sehen und diesem Zustand gegenüber als unterworfen ohne Ende zu empfinden, sondern immer stärker auf Deine Gegenwärtigkeit im Augenblick hin zu arbeiten.
Eine innere Anschauung des Aktus herauszuarbeiten, darauf hast Du uns durch Deinen Gleichklang zwischen Sprechen und Gehen während Deiner Vorlesungen in der Akademie Platons auf jede nur erdenkliche Weise aufmerksam zu machen versucht. Von heute her gesehen wurdest Du uns zum beredten Vorbild. Meisterschaft besteht nämlich im Vorbild sein, nicht in der Anmassung eines höheren Ranges gegenüber dem Schüler.


Aristoteles: Du hast mir soeben das Stichwort geliefert, mit dem ich zum Schluss unseres nächtlichen Gespräches kommen kann, denn die Sonne wird in Bälde über den Horizont aufsteigen.
Es betrifft die innere "Anschauung" des Aktus. Damit komme ich gleicherweise auf das Zentrum meines lebenslangen Forschen und Erfahren zu sprechen, wie auf Platon "und" Saphira. Beiden Menschen war und bin ich unendlich tief verbunden. Beider Weg war über eine sehr lange Zeit auch mein Weg, erlebnistief die Mysterien Welt zu erfahren.
Nur bin ich innerlich durch den Tod dieser Mysterien Erfahrung geschritten. Platon ist an dieser Schwelle wissentlich stehen geblieben und hat mich gerade dadurch ermutigt über diese Schwelle hinweg zu gehen. Saphira hat in Eleusis an dieser Schwelle eine sehr tiefe innere Erfahrung gemacht, den Blick auf diese Erfahrung, wie ich es sehe, aber wie mit einem Vorhang vor sich selber wieder verschlossen.

Kretos: Wenn ich nicht so sehr mit Deinem Denken und Tun vertraut wäre, dann würde ich jetzt angesichts Deines Sagen höchste Vorsicht anmahnen. Ich verstehe auf Grund eigener Erfahrungen mit Dir aber unmittelbar, warum Du die letzten Stunden ruhelos in dem grossen Wohnraum Deines Hauses auf- und abgeschritten bist. Zäsuren unter Freunden zu setzen ist das Schwerste, was einem Freund in bestimmten Lebensaugenblicken als ein Muss zufallen kann. Es bricht einem dabei das Herz.
Wie ich Saphira kenne, wird sie allein beim Anblick Deines Ansinnens auf ein Erstes hin geneigt sein Blitz und Donner gegen Dich zu schleudern.  Doch Du neigst Dich aus eigenem tiefen Erfahren heraus mit Deinen Worten ja ihr zu und reichst ihr ... den Schlüssel zu einem Heilungsraum.

Aristoteles: Ich hoffe sehr, dass sie es eines schönen Tages lang so sehen kann. Ein Schlüssel ist dies in der Tat, den ich Dir damit in Obhut übergebe. Du weisst aus eigenem Erfahren, wie damit umzugehen ist. Ich bin voller Zuversicht, dass Du den rechten Ton im Umgang mit Saphira finden wirst.

Kretos: Ich werde Deine Botschaft überbringen, sobald sie von ihrer Reise  nach Ägypten zurückgekehrt ist.

Aristoteles: Es wird sich erweisen, was Dein Bemühen dann erwirken kann. Meine Zeit ist jetzt gekommen. 
Die Sonne schickt gerade ihre ersten Strahlen über den Horizont. Ich will mich hinlegen. ...

Abschied von Dir zu nehmen, warum sollte ich das tun? Du kennst meine Anschauung vom Leben. Ich will im Angesicht der Sonne am zurückweichenden Nachthimmel ihr auch von innen weiter entgegen wandern, so wie ich es ein Leben lang in meinen Forschen um den Aktus versucht habe zu tun — bis zum letzten Atemzug.

Kretos: So kenne ich Dich. Ein Anfänger, ja das bist Du und hast daraus nie einen Hehl gemacht. Anfängergeist zu sein auf neuen Wegen in die Welt der Mysterien hinein, hier Zugänge zu erschaffen, das hat Dich zum Vorbild gemacht für all jene, die Dich kannten oder im Erproben Deines Weges Dich wirklich kennenlernen wollten.
Wie Du weiss auch ich mich als Anfänger, sind wir Gefährten auf Wegen in das Morgenrot erneuerter Mysterien. Auch wenn wir nicht wissen, wann diese innere Sonne in den Herzen vieler Menschen wirkkräftig über den Horizont aufsteigen wird, wir bleiben verbunden. …

Aristoteles:  Begrabt mich so wie ich hingegangen bin, verhüllt nur mit dieser leichten Decke, an der höchsten Steilklippe Euböas. Meinen Kopf ausgerichtet auf ein fernes Land im Nordwesten. Dort werden wir uns dereinst wieder sehen und zusammen das begonnene Werk fortsetzen.
Den von mir dafür ausersehenen Platz werdet ihr finden, wenn ihr von hier aus über den Platanenhain hinaus die Felsen ein kleines Stück hinunter steigt.
Jetzt aber reiche mir still noch einmal Deine Hand …

Aristoteles: Noch ein Letztes, Kretos. Sieh zu, dass ihr in die kommende Zeit hinein untereinander nicht den Kontakt verliert. Es ist unvermeidlich, dass so dies und das von innen, wie von aussen an euch herantritt, das Veranlassung dafür geben kann euch voneinander abzuwenden. Dies werden die Prüffelder für die tatsächliche Umsetzung des "erkenne Dich selbst" sein.
Das "erkenne Dich selbst" und die daraus hervor gehende Selbsterkenntnis als Leitlinie im individuellen Wahrheitsausdruck eures Mysterien Weg Schreiten -- verliert das in eurer inneren Anschauung nicht aus dem Auge.
Keiner wird auf dem Mysterien Weg auch nur einen Schritt weiterkommen, der im Angesicht des anderen Menschen nicht bereit ist sich immer wieder total in Frage zu stellen. Ich habe das ein Leben lang getan und nur dadurch den "Aktus," die höchst mögliche wache Verdichtung im Fliessgeschehen der Logos Kräfte innerhalb des Denkens mir unverstellt vergegenwärtigen können.

Kretos: Ich bin ganz still und höre nur noch zu, denn ich sehe, dass Du die Brücke bereits betreten hast. Es ist Deine grosse Geisteskraft, die mich Dich noch hören lässt. Dein Leib kann Dir nicht mehr Resonanzkörper sein, so geweitet bist Du bereits.
Die Logos Kräfte sprechen unmittelbar. …

© Bernhard Albrecht Hartmann, 23.04.2017


Der Anfang zu diesem Dialog (Teil 1) ist zu finden unter: 
  https://ich-quelle.blogspot.com/2015/01/unter-der-platane-ein-dialog-uber-die_10.html

Ein weitere Fortsetzung (Teil 4) wird zu gegebener Zeit erscheinen.