Dienstag, 25. Januar 2022

Mit den Augen des Falken ... (3)

Das Denken ist in der Erfahrung wirklich sehr schwer zu fassen, das habe ich gesagt. Der eine oder andere Leser wird mir aus seiner Sicht hier vorhalten, ich hätte bisher ausser einigen eher allgemeinen Hinweisen nicht gerade viel unternommen, was hilfreich sei um sich ihm annähern zu können. Das ist richtig, denn das Denken ist mit allen logischen Gesetzmässigkeiten, die seine inneres Gefüge modulieren etwas so individuelles, dass auch nur ein jeder auf seine ureigene Weise sich ihm nähern kann. Der Kommentar spricht davon, dass der Falkner sich in der Dunkelheit wie unsichtbar machen müsse, um das Vertrauen des Falken gewinnen zu können. 

Für das Denken stellt sich im Laufe der auf es ausgerichteten Untersuchungen immer deutlicher heraus, dass nur wer sich wie ein Jäger auf die Pirsch legt und gleichsam auf dem Hochstand innerer Beobachtungen in die gesteigerte Stille eines von innen her Beobachten sich begibt, der kann sich der Dimension annähern, die im eigentlichen Sinne dann nach und nach als die des Denken zu identifizieren sein wird. Der kann von seiner Seite auf ein Erfahren blicken, das als begründet angesehen werden kann und darf. 

Das Denken als eine  Dimension? Das Denken als ein eigenständiges inneres Kraftfeld - über die unterschiedlichen seelischen Erlebnisfelder mit ihren jeweiligen Erlebnismöglichkeiten hinausreichend - geht das nicht erheblich über das gängige Verständnis innerhalb der allermeisten sozialen Kommunikationsnetzwerke hinaus? Leben wir also im Sinne des sogenannten Gemischten Königs in Goethes „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“ in der gegenwärtigen Zeit in einer Art vielschichtig ineinander versetztem Panoptikum unserer seelisch-geistigen Welt- und Erfahrungsbezüge, weil wir im Denken den Zugriff auf unseren Willen verloren haben?

Den Willen. Jetzt wird es schwierig und ich weis, dass ich ihnen hier einiges zumute. Zumute in der Art, dass ich es wage sie heranzuführen, wenn sie denn innerlich mitgehen wollen an das Erfahren der eigenen inneren Nacht oder Dunkelheit.

Dunkelheit. Leeres Bewusstsein. Vorstellungsfreies Gewahren im Tasten in die eigene innere Stille hinein, die, seien wir ehrlich uns erschreckt, uns erschreckt wenn wir uns erstmals aktiv an diese innere Dimension herantasten, die uns erschreckt weil wir mit diesem Ansinnen so etwas wie den Boden unter unseren Füssen zu verlieren scheinen. Ja es kann sich auch zeigen wie ein momenthaftes Zusammenzucken, ein Riss durch unser Innerstes, ein schreckhafter Augenblick der Orientierungslosigkeit und in der Folge gleichsam so etwas wie ein inneres Um-Sich-Schlagen in dem Bemühen erneuter Landnahme. 

Die Welt die sich da gleichsam vor meinem inneren Auge auftut ist eine Welt, die uns herausfordert im Durchgang durch die Furcht furchtlos zu werden, das dynamische Stehvermögen - ähnlich dem Surfen auf Brandungswellen am Meer - in der Welt des Willens sich anzueignen. In der Welt, die dem eigentlichen Denken zu Grunde liegt übend beherrschen zu lernen. Doch ist das nicht eine sehr kühne Behauptung das Denken habe etwas mit dem Willen zu tun, mit der innerlich geführten Beherrschung des Willens. Der Ruf dies zu beweisen scheint also naheliegend zu sein. Doch dies hiesse das Pferd von hinten aufzuzäumen. Denn nicht ob ich das beweisen kann ist die eigentliche Frage, sondern ob sie die Leser bereit sind sich ohne wenn und aber der Frage zu stellen, weis ich was Denken ist oder weis ich, dass ich nicht weis, was Denken ist und von daher dann aus einer eigenen Entscheidung heraus den Weg der Selbsterkundung zu beschreiten. Und dies ist ein Weg, das muss hier mit aller Deutlichkeit bekundet werden, der sehr viel tiefer reicht als jener der folgerichtigen logischen Selbstreflexion.

Was ist Denken und was hat es mit dem Falken zu tun. Wer sich schon einmal etwas näher auf einen Falken eingelassen hat der weis, dass dessen Auge sehr mächtig auf einem zurück wirken kann. Dieses Auge blickt dich an und wenn du dich aus einer eher oberflächlichen Sinnesbegegnung heraus nicht schnell wieder abwendest, dann blicken diese Augen wie durch dich hindurch. Lehrer und Schüler in der alten Falken Schulung wussten ganz genau, dass der Falke eigentlich nicht zu zähmen ist. Sie wussten, dass es bei dem Umgang mit dem Falken allein darum ging zu lernen dem Blick des Falken zu begegnen und standzuhalten. Was heisst den eigenen Willen in den Griff zu bekommen. Der Berufung vom Knappen- in den Ritterstand ging in alten Zeiten die Falken Prüfung voraus. In dieser musste der Falken Lehrling in völliger Dunkelheit während zweier Tage und Nächte in der Nähe des Falken ausharren ohne dabei einzuschlafen. Der Falke war in seiner Art so unbestechlich, dass er innerhalb eines derartigen Ereignen nur auf die Schulter des Lehrlings überging, wenn dieser seine Willenskraft nicht einzuschlafen deutlich zeigte. Damit verbunden war in Folge das Recht den Falken im eigenen Wappen zu tragen. Ritter mit dem Falken in ihrem Wappen wiesen sich nach aussen hin dadurch aus, dass sie durch eine besondere Willensschulung gegangen waren.

Der Falke und das Denken. In welcher Beziehung stehen Denken und Wille zueinander. Das Denken ein inneres Blickorgan? Dies sind für die eigenständige innere Anschauung sicher keine ganz einfach zu klärenden Fragen. Aber es sind notwendige Fragen, wenn ich zu einem tatsächlichen Wissen, einer echten Erfahrung von dem vordringen will was Denken seiner ureigenen Konsistenz nach wirklich ist. Ich wage hier zu denken, dass wir Emanuel Kant unter einem ganz neuen Gesichtspunkt verstehen lernen könnten, wenn es uns denn gelänge mit dem Willen hinter dem sogenannte "Ding an sich" eine meditative Weile still im Dunkel zu verweilen. 

Das Ding an sich ist in meinen Augen nämlich eine stille Aufforderung zur Willensschulung im Vollzug eines zeitgemässen Eintritts in das Denken. Mir ist klar dass, indem ich diese Aussage hier mache ich mich dem Verdacht aussetze ich könnte beabsichtigen das gesamte heutige Kant Verständnis damit in Frage stellen zu wollen. Doch nichts steht mir ferner als dieses. Die Fähigkeit der abstrakten Gedankenführung wie sie durch Kant auf ihren unbestreitbaren Höhepunkt gebracht wurde ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Frage nach dem Willen im Denken nach und nach wieder in einem grösseren Umfang virulent werden kann. 

Rudolf Steiner hat zu seinen Lebzeiten mit seiner Philosophie der Freiheit eine Antwort gegeben wie der Wille im Denken erneut geweckt werden könne. Er ist damit über das Erschauern Emanuel Kants hinausgeschritten, das diesen erfasste - erfahrbar für Menschen die willens sind auf dieses verborgene biographische Momentum "meditativ" hinzuschauen - als dieser durch das Ding an sich wie von einem Berggipfel aus in einem Panoramaüberblick auf sein philosophisches Lebenswerk zurückblickte.

Und erschrak ob der Grösse der Aufgabe, die für ihn auf weiteren Wegen noch zu bewältigen gewesen wären. Dass Kant die Idee einer ersten Philosophie, wie er es ausdrückte letztlich nicht zu verwirklichen wusste, das hängt mit diesem seinem verborgenen Erschrecken und der Art seines ganz persönlichen Umgangs damit zusammen. Doch ich will und kann hier nicht mehr über die Hintergründe sagen. Somit steht bis heute diese nicht realisierte Idee von Kant vor unser aller Augen als eine Aufgabe die es zu ergreifen gilt.

© 25.01.2022 Bernhard Albrecht Hartmann



Donnerstag, 20. Januar 2022

Mit den Augen des Falken ... (2)

Der nachfolgend mir per Mail übersandte Kommentar zu meinen Blogeintrag: Mit den Augen des Falken … (1) veranlasst mich diesem Beitrag einen zweiten Teil folgen zu lassen.

„Ein Falke ist von Natur aus sehr scheu. Wenn er von einem Falkner zu einem Jagdfalken ausgebildet werden soll, wird er ganz jung zu diesem kommen. Die ersten Schritte zum Zusammenfinden von Falke und Falkner erfolgen in einem abgedunkelten Raum. Der Falkner muss versuchen, sich durch ganz langsame Bewegungen „unsichtbar“ zu machen, um Flucht und Stress beim Vogel zu verhindern. Dann wird versucht, das Vertrauen des Greifs mit Leckereien aufzubauen. Dies dauert mehrere Tage. Um ihn anschließend dazu zu bewegen auf den Lederhandschuh des Falkners überzutreten, bedarf es vieler Lockversuche mit Futterbelohnung. Hat er sich an den Übertritt auf den Handschuh gewöhnt, kann man nach draußen gehen. Hier wird der Vogel wieder mit Leckerbissen darauf trainiert, auf immer größere Distanzen auf den Handschuh des Falkners zu kommen – dabei bleibt er aber zunächst mit einer feinen Schnur angebunden. Ist das Vertrauen groß genug, kann eines Tages die Schnur entfernt werden – der Falke kehrt gemäß Futterbelohnung immer auf den Handschuh des Falkners zurück. Ist diese Verbindung gelungen, kann im nächsten Schritt der natürliche Jagdinstinkt des Falken eingesetzt werden. Er lernt, dass er im Verbund mit dem Falkner erfolgreicher jagen kann, da dieser die passende Beute aufzuschrecken vermag. Um dem Falken seine Beute abzunehmen, muss der Falkner ihm als Ersatz wieder eine Futterbelohnung anbieten – teilweise wird er für eine langfristige Motivation auch gestatten, seine Beute selbst zu fressen. 

Es ist deutlich, wie schwer es unter normalen Umständen ist, das Vertrauen eines Falken zu gewinnen. Auch langfristige Beziehungen halten nicht für immer, manchmal verschwindet auch ein gut ausgebildeter Vogel noch von seinem Falkner. Niemals kommt ein Falke freiwillig, immer muss der Falkner den Vogel mit Futterbelohnung anziehen und sein Vertrauen gewinnen. 

Ich wähle absichtlich ein „technische“ Darstellung der äußeren Vorgänge bei der Ausbildung eines Falken, als größtmöglichen Kontrast zu Ihrer Darstellung. Damit soll – und das wird es vielleicht auch - deutlich werden, wie besonders der Vorgang ist, wenn der Falke von sich aus den Platz auf der Schulter der Touristin einnimmt. Dies spricht für ein erhebliches unsichtbares Band zwischen beiden – eine enorme seelisch-geistige Resonanz. Tiere bewegen sich ganz allgemein immer nur aufgrund eines Gefühls, das auf Sinneswahrnehmung beruht (z.B. Futter, Schrecken) oder aufgrund eines seelisch-geistigen Bandes. Das seelisch-geistige Band muss die Intensität einer Sinneswahrnehmung aufweisen. Mir sind keine weiteren Fälle bekannt, bei denen ein Falke sich auf die Schulter eines/r völlig Fremden gesetzt hätte.“

Ich bin sehr dankbar für diese sehr kontrastreiche Kommentierung meines Beitrages, weil mir gerade diese Herangehensweise ermöglicht einige tiefere Aspekte des Verhaltens des Falken mit den seelisch-geistigen Verhaltensweisen des Menschen, insbesondere daselbst des Umgangs mit dem Denken in einer Art erster Zusammenschau korrespondierend einander anzunähern. Wie das? Der Falke und das Denken?

Schauen wir uns die Ausführungen dieses Kommentars etwas genauer an. „Die ersten Schritte zum Zusammenfinden von Falke und Falkner erfolgen in einem abgedunkelten Raum. Der Falkner muss versuchen, sich durch ganz langsame Bewegungen „unsichtbar“ zu machen, um Flucht und Stress beim Vogel zu verhindern.“ Was bedeutet das für das entsprechende Erfassen  des Denken? Unterziehe ich dieses einer näheren Untersuchung innerhalb meines seelischen Beobachten so muss ich immer deutlicher erfahren, dass dies gar nicht so leicht ist wie es auf ein Erstes hin scheinbar zu sein erscheint. Von Mal zu Mal wird in meinem Bemühen nämlich sichtbar, dass das Denken so nebenbei nicht zu erfahren, dass heisst in einem Verhältnis Auge in Auge im Innenverhältnis meines seelischen Erfahren zur Anschauung zu bringen ist. Gerade weil Denken von einer mittelmässigen Bildung an aufwärts für allgemein verfügbar gehalten wird weist die genauere Untersuchung schrittweise immer grössere Probleme für das tatsächliche Erfahren desselben aus. Um es bildhaft auszudrücken, das Denken scheint innerhalb der seelischen Erfahrungswelt des Menschen so etwas wie ein Fluchtvogel zu sein.

Ein Fluchtvogel? Die intellektuelle Grundfähigkeit denken zu können, welche heute gleichsam wie selbstverständlich als unverbrüchliches Bildungsgut angesehen wird, von daher also auf der Habenseite geistesgeschichtlicher Entwicklung zu verorten ist sei etwas so Flüchtiges, dass es möglicherweise nicht so ohne Weiteres als allgemein gültiges Bildungsgut verstanden werden könne und dürfe. Hm, ist die Annahme einer derartigen Einlassung nicht mehr als starker Tobak auf die Mühlen gängigen Philosophie Verständnisses? Ist in dieser Richtung zu denken von allem Anfang her also absurd. Der Philosoph Thomas Nagel(1) äussert sich jedoch gerade gegenüber einer sich zeigenden Absurdität im Umgang mit dem Denken nüchtern so: "Philosophie (und Wissenschaft?) darf keinesfalls zu ermässigten Ansprüchen ihre Zuflucht nehmen." Sie fusst auf der steten Weiterentwicklung "ihrer eigenen unterentwickelten Fähigkeiten" und was not tut, so ich in der unweigerlichen Kollision einander widerstreitender Perspektiven auf das "Absurde" stosse, "ist der Wille, es mit ihm aufzunehmen.“

Schauen wir uns also diese Absurdität an. Was im Zusammenhang mit dem Hinschauen auf das Denken zunächst auffällt ist, dass mehr oder weniger geordnete Gedankengänge sich in unserem sogenannten Bewusstseinsraum beständig ineinander und umeinander herum bewegen. Gedanken sind gleichsam unsere unablässigen Begleiter durch und über den Tag hinweg. Doch denken wir deshalb schon, wenn wir derartige Vorgänge in uns konstatieren? Oder gilt hier eher die Aussage: „Denke nie gedacht zu haben, denn das Denken der Gedanken ist gedankenloses Denken. Wenn Du denkst Du denkst, denkst Du nur Du denkst?“(2) Wenn dem aber so sein sollte, dass Gedanken haben bedeutet, dass ich innerhalb eines derartigen Verhaltens möglicherweise nicht wirklich denke, was hiesse dann „wirklich“ zu denken? Gehe ich diesbezüglich zunächst einmal von der Bedeutung des Wortes wirklich aus, dann werde ich auf ein Wirken, ein zu Erwirkendes, ein Verwirklichen verwiesen. Im eigentlichen Sinne also auf eine Tätigkeit aufmerksam gemacht, die (ich ?) im Denken zu vollziehen hätte. Dies berücksichtigend würde dann unabdingbar zur Folge haben, dass ich nur insoweit von Denken sprechen kann, wie ich mir ein zumindest anfängliches Bewusstsein von den Bewegungen erarbeitete, die innerhalb des Denken vonstatten gehen, sobald ich hier selbststeuernd unterwegs bin.

Selbststeuernd: Ein grosses Wort und (Hand aufs Herz) ein noch grösseres Vorhaben, das seiner Verwirklichung nach wie vor harrt. Eine Verwirklichung angesichts deren ungeheuerlich ambitionierter Herausforderung sogar ein so grosser der philosophischen Geistesgeschichte wie Emanuel Kant innerlich wie erschauert zu sein scheint, wenn er einerseits sagt, dass seine Philosophie die eigentlich erste(3) unter allen voraus gehenden philosophischen Bemühungen sei - womit ihm recht zu geben ist - auf der anderen Seite er hinter seiner eigenen Aussage wie zurückzuschrecken sich darstellt, wenn ich die Aussagen von ihm bezüglich des sogenannten Ding an sich meditativ bis auf ihren Grund hin zu untersuchen mich anschicke. Denn, lauschen sie liebe Leser einmal letzterer Aussage wirklich nachhaltig nach, liegt darin nicht unser aller schlafender Wille, den es allseitig seither zu entfalten gilt wie in einem Embryo Zustand zurückgehalten geborgen?

Der Falke ein Fluchttier. Das Denken so etwas wie ein Fluchtvogel, der sich beständig dem Zugriff entzieht. Das Denken und der Wille es hervorzubringen. Der Wille und das Problem des Zugriffs auf ihn in der Erfahrung. Ist intuitives Erfahren in einem transparent zu beschreibenden eigenen Vorgehen für das Erfahren anderer Menschen nachvollziehbar zu machen? Was könnte der Ausgangspunkt für ein derartiges Vorhaben sein? Ein Unterfangen, das auf je eigenen inneren Wegen das Fürchten zu lernen mit wachsendem inneren Mut dazu führt im Angesicht individueller Geschehnisse furchtlos zu werden. Der Dreh- und Angelpunkt für diesen Weg? Das tatsächliche Eingeständnis im Sinne des Sokrates, dass „ich weis,“ dass ich nicht weis, auf das ich in meinen vorangehenden Blog Essays  unter verschiedenen Aspekten immer wieder einmal hingewiesen habe. Wenn sie also das Wagnis eingehen wollen eine tatsächliche Erfahrung machen zu wollen was es heisst ich weis, dass ich nicht weis, dann lassen sie sich vielleicht auf folgende praktische Übung ein. Gehen sie über eine längere Zeit eine Treppe regelmässig bedachtsam Schritt für Schritt nach oben und darauf achtsam auf jede einzelne Phase ihres Tuns achtend wieder langsam nach unten. Wenn sie das wirklich tun, dann werden sie zu einem ihnen gemässen Zeitpunkt von dem Schauer der Bodenlosigkeit berührt werden. Sie werden in diesem Augenblick die Erfahrung machen, dass sie bis dahin noch nie eine Treppe „wirklich“ hinauf und hinunter gegangen sind. Dass sie dies vielmehr taten gehalten von einer Vielfalt unterschiedlicher Vorstellungsleitplanken. Benützen sie deshalb zu ihrer eigenen Sicherheit ein Treppengeländer, um im Erfahren des Schauers von Bodenlosigkeit sich in dieser dennoch halten und dynamisch weiter bewegen zu können. 

Was vermittelt das tatsächliche Erfahren der Bodenlosigkeit? Es vermittelt ihnen ihr ganz und gar einzigartiges Erleben ihrer individuellen Freiheitsfähigkeit. Und noch etwas. Es stellt sie mit dieser Erfahrung abrupt auch unmittelbar hinein in die nur ihnen zu eigen sich gebende Verantwortlichkeit ihres Lebens. Denn ohne eine wie auch immer geartete Erfahrung der Bodenlosigkeit im Laufe des eigenen Lebens ist die lebensgemässe Verankerung einer ersten Philosophie im Sinne von Kant, bzw. die zeitgemässe Fortsetzung der Geisteswissenschaft im Sinne Rudolf Steiners nicht möglich. ✲

© Bernhard Albrecht Hartmann 20.01.2022


(1) Thomas Nagel, "Der Blick von Nirgendwo," Suhrkamp TB 2012, Seite 22 - 24

      https://ich-quelle.blogspot.com/2016/07/einige-anmerkungen-zu-thomas-nagel-der.html

(2) https://www.aphorismen.de  Quelle unbekannt

(3) Siehe Eckhart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie, die rote Reihe Band 51  

     Vittorio Klostermann Verlag Frankfurt am Main 2. Auflage 2012

✲  Fortsetzung: https://ich-quelle.blogspot.com/2022/01/mit-den-augen-des-falken-3.html 

Donnerstag, 6. Januar 2022

Mit den Augen des Falken ... (1)

Ein kühner Titel und damit eine Herausforderung zugleich. Eine Herausforderung innere Ausdauer zu entwickeln und zu halten. Denn wer den Falken-Weg geht, der hat sich aufgemacht den Weg des Erwachens zu beschreiten, den Weg des Auge in Auge mit sich ohne Widerrede. Was heisst den vielfältigen Täuschungen, die Dir heute nicht selten im Sekundentakt von aussen wie gleichermassen von innen entgegen treten ohne Umlenkungen jedweder Art zu begegnen. Selbstbegegnung also in fortlaufenden seelischen Beobachtungen nach naturwissenschaftlicher Methode. Selbstbegegnung als Prozess im zeitgemässen Nachgang der Geisteshaltung des Sokrates … des „ich weis, dass ich nicht weis.“

Weis ich, dass ich nicht weis? Wenn ich hier bemüht ehrlich innehalte, dann irritiert mich diese Frage. Pointierter ausgedrückt muss sie mich im Rahmen eines echten Erkundungsversuches in dieser Richtung geradezu bestürzen, denn was mir in diesem Falle bis anhin als sicher in und durch mein Denken galt, das fängt innerlich dann zumindest für einen kurzen Augenblick zu wackeln an. Stürze ich Sie werte Leser damit in einen endlosen Regress des Zweifelns? Nein, ich lasse Sie hier wie bisher in meinen vorausgehenden Blog Beiträgen nur an meinen „inneren Bewegungen“ des Denkens teilhaben. Doch um von der Seite des eigenen inneren Erfahren mich den Tatsachen gemäss den Gegebenheiten rund um das Denken nähern zu können muss ich den Bogen der Beobachtungsbereitschaft sogleich noch ein wenig mehr spannen, indem ich ihnen kurzerhand zumute dieses ins Auge zu fassen. Denken wir überhaupt, wenn wir vermeinen zu denken? Denken wir „wirklich?“ 

Wirklich? Was heisst wirklich denken? Wenn ich mich genau besinne, dann habe ich bestenfalls eine diffuse Vorstellung davon weil ich mir diese Frage bisher noch nicht ernsthaft, also mit letzter Konsequenz bis an die Grenze dessen, dass „ich weis“ dass ich „nicht“ weis innerlich vor Augen gerückt habe. Was Denken ist, das versinkt für mich, ohne Selbstverblendung angeschaut, schlichtweg im Dunklen. Auch die diffizil durch deklinierte analytische Betrachtungsweise auf das Denken hin hat genauer besehen allein dessen verstandesmässig abstrakten Aspekt in die Sichtbarkeit gerückt. Eine erfahrungsbasierte Betrachtung auf das Denken hat Kant damit nicht eröffnet. Das mögliche bewusste Durchdringen des Denkens verblieb in der Formel des „Ding an sich“ wie in sich zurückgehalten.

Warum? Kant hat in seiner Forderung alle Weltzusammenhänge auf Erfahrung hin zu durchdringen und dabei das Denken, je tiefer er es gedankenmässig in seinen vielfältigen Gedanken Bezügen durchdrang wie vergegenständlicht. Verblieben sind als Ergebnis seiner analytisch kritischen Versuche das Denken erfahrungsmässig aufzuhellen am Ende schattenhaft abstrakte, leblose Gedankengebilde. Doch wir täten Kant mehr als unrecht, wenn wir es bei diesem Ergebnis belassen würden. Seine Bedeutung liegt aus meiner Sicht, soweit ich sein geistiges Schaffen überschaue jenseits seiner eigentlichen wissenschaftstheoretischen philosophischen Denkansätze und der technokratisch materialistischen Denk- und handlungsgeleiteten Verfahrensweisen, die ganz wesentlich aus seiner analytischen Philosophie hervorgegangen sind.

Es ist dies die besondere Art des Selbstbewusstsein, das sich als Folge seines abstrahierenden Umgangs mit dem Denken heraus gebildet hat. Dieses wird in der weiteren Entwicklung seither mehr und mehr zum Dreh- und Angelpunkt menschlichen Ausdrucksverlangens durch alle Gesellschaftsschichten hindurch. Immer deutlicher werden in den Auswirkungen des kantischen Denkens alles denken zu können aber auch die Folgen der Teilhabe an seinem abstrakten Freiheitsbegriff. Nämlich:„Wenn >Du< denkst >Du< denkst, dann denkst >Du< nur >Du< denkst, denn das Denken der Gedanken ist gedankenloses Denken. Wenn >Du< denkst >Du< denkst, dann denkst >Du< nur >Du< denkst.“ Das gewonnene Selbstbewusstsein wird innerhalb seiner Tatsachenweit immer unübersehbarer von allen Seiten herausgefordert in die Selbstverantwortung einzutreten.

Mit dem Selbst-Bewusstsein, dem Bewusstsein >Deiner< selbst, dem Erkenne Dich Selbst, zu dem Kant - so Du ihm innerlich bis an die Grenze des „ ich weis, dass ich nicht weis“ folgen willst,  das er durch seine abstrakte philosophischen Analysen eigentlich hintergründig aufdeckt - wenn Du ihm bis dahin folgen kannst, also >Dein< Selbstbewusstsein innerlich so glasklar, was heisst fortlaufend von jedweder Art Anhaften zu schleifen bereit bist, betrittst Du den Falken-Weg, den Weg der im Leben sich verankernden Freiheitsphilosophie. Du generierst Dich selbst durch das sogenannte Ding an sich hindurch als beständig sich in Bewegung haltender und selbst zu initialisierender Ich-Quell ins Leben hinein. Nur so macht die Behauptung Kants Sinn, dass mit seiner Philosophie der Anfang der Philosophie schlechthin gesetzt sei.

Selbstbewusstsein als Alpha und Omega der Entscheidungen, Deiner Entscheidungen zum Leben hin: Machen wir uns nichts vor die Analysen des Denkens mit dem wir es tagtäglich in unserem Alltag zu tun haben sind zumeist mehr als uns lieb ist Selbstzüchtungen eigenen Vermeinen über dies oder jenes, was wir von unserer Seite aus in dieses Denken unversehens hineinlegen als Tatsachen gerechtes Ausloten und Erfassen dessen was der Zuträger dieser Gedanken uns eigentlich in diesen vermitteln wollte. Die Diskrepanz zwischen dem Denken, das an uns herantritt und dem Verstehen, das wir diesem über die eigene bereitgestellte Resonanztiefe willens sind  angedeihen zu lassen ist unser tagtäglich Brot, das zu verdauen für uns die Aufgabe ist im Sinne der praktischen Vollendung der analytischen Philosophie - demütig. Versäumen wir es nicht uns zur rechten Zeit hier immer wieder jene Zeit zu geben um uns in so etwas wie einen schwarzen Umhang zu hüllen und alle Resonanzschichten, die diese Art des Denkens in uns hervorgerufen hat still auszuloten. So wie der Falke, der des nachts stundenlang auf einem Baum sitzend verweilen kann und alle Klänge der Nacht durch sich hindurchziehen lässt. Erst wenn sich im Zuge eines derartigen Bemühens in mir kein Widerspruch mehr regt, dann stehe ich an der Pforte dessen was es zu verstehen gilt. Dann regt sich aus meinen Seelentiefen heraus Geist-Erinnern und mein Selbstbewusstsein kann mir als ungetrübter Resonanzkörper echtes Verstehen vermitteln.

Doch was hat das rechte Verstehen mit Geist-Erinnern zu tun? Machen wir uns nichts vor, in den Denkabläufen die von je anderer Seite an uns herantreten, also auch meine Denkabläufe hier in diesem besonderen Augenblick, die ich Ihnen zumute, sie führen nur zu dem einen Ziele sich erinnernd ihrer selbst gegenwärtig zu werden - hier und jetzt. Zumindest dann, wenn sie diese nicht vor sich selbst in der einen oder anderen Art abwiegeln um sich möglichst schnell von Dannen schleichen zu können. Denken ist eben alles andere als eine leichte Sache und manchmal wirst Du dabei mit Denkbewegungen konfrontiert, die sich als nicht so leicht zu verdauen darstellen weil sie dein kunstvoll gestricktes Maskendasein bis in seine Grundfesten hinein erschüttern und ins Wanken bringen. Du weist in solchen Augenblicken unmittelbar, Du kannst das Spiel gegen Dich selbst nicht weiter so fortsetzen. Du kannst nur der werden zu dem Du im innersten veranlagt Dich selbst bestimmst.

Den Falken-Weg zu gehen bedeutet dabei stets bereit zu sein seinen äusseren Lebensweg durch das Innere leere Bewusstsein zu nehmen. Und wundern sie sich nicht wenn ich hier eine Bezugsbrücke zum Bergsteigen, genauer zur anspruchsvollen Kletterei daselbst schlage. Das macht den guten Kletterer nämlich erst zu einem exzellenten Kletterer, so er in allem was er tut, ob im Anstieg zu Kletterwand oder mitten in ihr hängend ruhig Ausschau hält nach dem nächst möglichen Griff oder Tritt auf seinem weiteren Weg, er also ganz in der Bewegung schwingt, die ihn bergan führt. In Bewegung trägt ihn der Augenblick, der ihm alles an Ausdauer und Mut zur Entscheidung im unwegsamen Gelände abfordert, der Augenblick wo Bewegung in leeres Bewusstsein übergeht und leeres Bewusstsein zur tragenden Kraft wird, zur Kraft die ihn nicht abstürzen lässt. 

In einer ganz ähnlichen Verfassung befindet sich der Falke, wenn er des nachts scheinbar bewegungslos in der Spitze eines Baumes sitzt, bewegt in Bewegung die ganze Fülle der Bewegungen dieser Nacht durch sein Federkleid hindurch filtert - auf den einen Augenblick der Entscheidung hin, der ihn seine Flügel spreizen und im Sturzflug das Lied der Freiheit anstimmen lässt. Der Falke - der Wächter der Freiheit Willigen. Lassen wir uns nicht täuschen, in einer Welt  in der das Leben des Falken verfügbar gemacht wird für spektakuläre Falken Schauen, der Falke lässt auch hier nicht über sich verfügen. Er geht weiter seiner Aufgabe nach die Freiheit Fähigen zu suchen und zu ermutigen. So wie es einer jungen Touristin vor einiger Zeit bei einer gross ausgelegten Falken-Schau in Dubai geschah, in der ein Falke unerwartet von seinem Sitzplatz aufflog, um im Tiefflug an einer Reihe von Zuschauern entlang zu gleiten und sich auf der Schulter dieser jungen Frau niederzulassen. Wie sie später erzählte, hatte er schon eine ganze Weile vorher in ihre Richtung geschaut.

Der Falke lässt sich nicht täuschen, er wählt seinen Menschen, den Menschen, der hindurchgegangen ist durch leeres Bewusstsein und diesem Erfahren standgehalten hat.


Bernhard Albrecht Hartmann