Samstag, 28. Dezember 2013

Unter der Platane - Ein Dialog über die Zeiten hinweg im zeitlosen Nullfeld I

Einleitung - Der nachfolgenden Dialog entstand vor dem Hintergrund meines auf meinem Blog am 10. 09. 2013 eingestellten Gedichtes Platon: https://wege-der-befreiung.blogspot.com/2013/09/plato.html und des von Barbara Hauser dazu verfassten Kommentars vom 17. 09. 2013, den ich hier im Wortlaut einstelle, weil die im Kommentar angegebene Quelle zwischenzeitlich geschlossen wurde.


„... die Idee erst geschaut, und dann neu belebt, in dunkler Höhle erinnert.
Bewusstheit zeigt sich uns erst im "erwachten" Ich -
ein Konzept, ein Phänomen, das uns dient und verstanden wird, wenn wir gereift.

Er hätte die indischen Lehren gekannt, las ich von Plato ...

Bewusstsein sprudelt - gleich einem Quell -
erschafft sich in tausenden Bildern - die wie ein Film vorüberziehen -
ein Traum - bis sein Träger die Hypnose, die Illusion erkennt,
er sich nicht mehr in Unglück noch Glück involviert ...

Von diesen Fesseln befreit, wendet er sein(e) Ge-sicht der Sonne zu,
wird zum Klangkörper mehr und mehr in gesteigerter Wachheit.
Vom Lichtsturm berührt schwingt er, wird gespielt vom GROSSEN ICH“

Was in diesem Dialog zur Sprache kommt, das ist als ein Versuch zu verstehen, einige Geschehnisse um Aristoteles und Platon herum, eingebettet in eine poetische Ummantelung, tiefer zu decodieren und den Blickwinkel damit zu weiten für mehr Hintergründiges im Lebenslauf dieser beiden Geistesgrössen.
Einige wenige Mosaiksteine sind damit aneinander gereiht, deren Viele noch folgen können, wenn einmal die Kraftgestalt in den Werken von Aristoteles und Platon vertieft forschend angegangen werden sollte. Die Zukunft wird es weisen, ob sich Menschen finden, die ein scheinbar abgegrastes Feld der Forschung mit einem innerlich geweiteten Blick erneut betreten wollen, um bis anhin in tieferen Schichten verborgen gehaltene Schätze zu bergen.


Kretos:  Es sind deine Worte Saphira, „Bewusstheit zeigt sich erst im „erwachten“ Ich“ ...  im? ...
Ist das Ich ein Etwas oder ist es in seiner Essenz ein so Flüchtiges, das in seiner Prozessgebärde nur schwer bewusst erfasst und noch schwerer sich zum Erleben gebracht werden kann? Unbemerkt vom Verstand innerlich statisch verfremdet, irgendwo weit oben, fern von Dir, ein (nicht zu erreichender) Zielpunkt oder direkt vor deiner Nase in der Unmittelbarkeit Deines Augenblicks, selbst im grösstmöglich erfahrbaren Dunkel? Niemals wirklich zu erfahren aber innerhalb der Fluchten bejammerter Schwächen.

Saphira: Du gehst glasklar zur Sache, hebst ein jedes Wort gleichsam auf, drehst es in Deinen Händen, um seinen Gehalt Dir zu vergegenwärtigen. Das, mein lieber Kretos, schätze ich so sehr an Dir, Bewusstheit ist für Dich mehr als ein von Vielen so beschworenes Wort, es ist unmittelbare Tat.
Das macht Dich aber auch irgendwie unnahbar, wie ich in Gesprächen mit Dir zu wiederholten Malen schmerzhaft erfahren habe. Du weist, ich bin schon mehrfach mitten in einem unserer Gespräche aufgesprungen und innerlich zutiefst aufgewühlt aus den kühlen Hallen dieses Platanen Haines davon gestürmt. Dein stilles, warmherziges Lächeln hat mich ein jedes Mal wieder zu Dir zurück gerufen.

Kretos: Nun, ich habe selber lange gebraucht, um mich in diesem meinem Verhältnis zu meinen Mitmenschen zu verstehen. Im fortgeschrittenen Alter weis ich heute, da Aristoteles schon lange nicht mehr unter uns weilt, dass dies der Geist, wie auch der Preis der Freiheit ist, den uns Aristoteles dereinst unscheinbar zwischen allen seinen Worten gleichsam einzuhauchen versucht hat. Du kannst nicht „über“ Bewusstheit sprechen. Entweder lebst Du Bewusstheit in Deinen inneren und äusseren Dialogen oder Du träumst Dich selbst in einer Fata Morgana. Deine Worte sind nicht wirklich authentisch eingewurzelt in Deinem Alltag.
Und das ist, wie Du selber weist Saphira, eine lebenslange Herausforderung. Der Atem der Freiheit umgibt Dich mit einer ganz eigenartigen Kühle, was, wie Du sagst, ja ein warmherziges Lächeln nicht ausschliesst.

Saphira: Bei aller Klarheit, Du weist Dein Sagen mit Charme zu umkleiden.
Doch zur Sache: Ich kann nicht verhehlen, dass meiner Aussage noch ein Hauch von Statik innewohnt. Trotz eines weit um sich greifenden Bemühens bremse ich den Bewusstseinsstrom in mir immer wieder einmal aus und das hat dann Aussagen zur Folge, die Du scharfsichtig sofort aushebelst, selbst wenn auch nur ein Wort darin leicht in Schieflage daher kommt.
Der Tatbestand, den wir hier gemeinsam betrachten, ist ja auch wirklich schwer von der Beobachtung her zu fassen und in geeignete Worte zu bringen. Du sagst es ja selber.

Kretos: Dein versöhnlicher Ton stimmt mich froh, konnte mein Sagen doch als eine unverhältnismässige Kritik aufgefasst werden, wo es mir allein um die Sache ging. Dass Du Dich jetzt nicht in die Flucht schlagen liessest, freut mich sehr. Es scheint mir, Du bist im Laufe unserer nicht wenigen Gespräche über Bewusstseinsfragen innerlich standfester geworden.
Du lebst mehr Gelassenheit und das spornt mich innerlich an, mich daran zu wagen noch mehr von dem, was ich in meinen jüngeren Lebensjahren aus dem Munde von Aristoteles unmittelbar vernahm und was sich in den Folgejahren aus mannigfaltigen Keimen in mir still weiter entwickelte, jetzt in Worte zu fassen.
Du selbst bist ja dazumal aus der Akademie des Platon, in der Aristoteles zu dieser Zeit lehrte, geflohen, weil Dich seine Gedankengänge in Deiner noch lebendigen Rückbindung an die Mysterien Welt so sehr erschütterten, dass Dir, so erinnere ich mich an Deine Worte, nur die Flucht blieb. Seine Ausführungen erschienen Dir so kühn und gewagt, dass Dir bei der Annahme innerlich schwindelig wurde, daraus könnte sich in ferner Zukunft einmal eine erneuerte Mysterien Schulung ergeben.
Du erinnerst Dich gewiss noch an die Worte des Aristoteles, die er unmittelbar vor Deiner Flucht aussprach, dass das Ende der alten Mysterien Kultur mit dem Brand von Ephesus unumkehrbar eingetreten sei und dem zu Folge die Zeit danach nur noch Niedergang nach sich ziehen könne. Dem aber konntest und wolltest Du nicht beipflichten, war doch dein Vater in Deinen Augen ein Eingeweihter der Mysterien von Eleusis.
Was Du in der schönen Verehrung für Deinen Vater damals nicht zu wissen schienst, war, wie sorgenvoll dieser seinerseits die Entwicklung der Mysterien Schule von Eleusis innerlich begleitete. Immer weniger Schüler gelang es über die ersten Prüfungen hinaus weitere Stufen zu erklimmen und die damit verbundenen Prüfungen zu meistern. Den Rang, den Dein Vater noch einnahm, hat nach ihm niemand mehr erreicht. Er war der Letzte seines gleichen in Eleusis und litt unendlich darunter.
Wie so mancher aus den Reihen der Lehrenden an seiner Schule, schloss er sich aber nicht den Gegnern um Aristoteles an, die mit ihren Angriffen letztlich nur einen Mysterien Status verteidigten, der in sich hohl und leer geworden war.

Saphira: Ja, ich bin heute in vieler Hinsicht gelassener in meinem Lebensausdruck, als in den Tagen, da mein Vater noch lebte. Ich trage sein Lebensvermächtnis in meinem Herzen, das er mir unmittelbar vor seinem Hinübergehen anvertraute.
Saphira, so flüsterte er mir in mein ihm tief zugeneigtes Ohr, mit dem ich seine letzten Worte gleichsam einzufangen versuchte.
„Eine jede Entwicklung geht durch ihren Nullpunkt, um gestärkt daraus für weitere Entwicklungsschritte hervor zu gehen. Auch Du wirst diese Erfahrung in Deinem Leben in sich steigernden Formen immer wieder durchzumachen haben. Wenn es soweit ist, so stehe mutig und standhaft in Dir und alles wird sich zum Guten hin fügen.“
„Ich weis nicht mit letzter Gewissheit, wo hinaus Aristoteles strebt, in dem er die Mysterien Schulung so auf den Kopf stellt, wie er es in Platons Akademie, eine jegliche Geheimhaltung ganz offen brechend, tut. Aber ich bewundere seine innere Standfestigkeit in seinem Tun, da ich in meinem eigenen Leben es zu vielen Malen erfahren habe, wie lebendige Standhaftigkeit einem letztlich zu neuen Ufern führt. Bleibe mit seinen Worten in Verbindung, prüfe und kläre sie auf Deinem inneren Erfahrungsfelde, mit der Strenge Dir selber gegenüber, wie Du sie in der Mysterien  Schule von Eleusis vermittelt bekommen hast, nicht zuletzt auch durch mich. Bleibe aber nicht an dem alten Erfahrungswissen der Mysterien Schule hängen, wenn Dich Deine inneren Erfahrungen neue Wege weisen sollten. Gehe sie mit Mut.“
„Ich gehe jetzt als Blinder über die Brücke in die Geistwelt hinüber. Wenn wir uns in einer neuen Zeit dereinst wieder sehen werden, dann, so hoffe ich, werden Deine Erfahrungen mir helfen aus meiner Blindheit heraus zu finden, hinein in eine sich erneuernde Mysterien Kultur.“

Kretos: Welch eine Geistesgrösse Saphira, sich selber als Blinden sehen zu können und das bei dem Rang, den er in Eleusis einnahm! Mich umwehen Schauer tiefster innerer Erschütterung und Hochachtung.

Saphira: Mir geht es nicht anders, wenn er mir lebendig, wie jetzt, vor meinem Herzauge steht. Aristoteles in seinen Aussagen vor meinem inneren Erfahrungsfeld zu prüfen, dieses Vermächtnis begleitet mich seither durch alle Tage meines Lebens. Aktuell unter dem Frage Aspekt: „Bewusstsein sprudelt gleich einem Quell“ ... und meinem Wissen, dass Platon die indischen Lehren (also altes Erfahrungswissen der Mysterien) gekannt habe. Wie  kann das zusammengehen?
Ich gelange in meiner inneren Erfahrungswelt immer mehr zu der Gewissheit, dass altes Erfahrungswissen zu nichts nütze ist, wenn es nicht im Hier und Jetzt meines Alltags zu einem sprudelnden Quell werden kann. Weisheiten, mit denen ich andere Menschen  „beglücke“ ziehen mehr Unbill nach sich, als dass sie evolutionäre Prozesse im anderen Menschen und in mir auslösen können. Nur das, was existentiell und lebendig sich durch mich dialogisch auszudrücken vermag, das kann Wirkung erzeugen und Entwicklung auslösen. Für ein erneuertes Mysterien Wesen ist meine existentielle Lebensauthentizität Prozess auslösend. Insofern kann ich mich heute auch nicht mehr auf irgendwelche Lehrer stützen, die mir sagen, wo der Weg lang geht. Ich muss mein eigenes Erfahrungsfeld immer wieder neu zum Prüffeld für den nächsten Lebensschritt klären und aktivieren. Freiheit hat ihren Preis.

                                   Aristoteles
Kretos: Das ist auch meine Auffassung.
Deine Rede weckt jedoch auch eine alte Erinnerung in mir, die auf ein Erleben deutet, das mich seinerzeit unendlich bestürzte. Ich denke, dass ich es deshalb bisher in mir verschlossen gehalten und Dir nicht davon erzählt habe, wie ich sonst Vieles mit Dir auf diesem Felde geteilt habe. Es betrifft die letzte Begegnung zwischen Aristoteles und Platon, deren Zeuge ich war. Vielen Zeitgenossen wurde es zum Rätsel, dass sich diese beiden Grossen von einem bestimmten Zeitpunkt an offenkundig nicht mehr begegneten.
Du weist, dass mich Aristoteles immer wieder gerne an seiner Seite wusste, wenn er sich ausserhalb der Akademie Platons bewegte. Es war ihm einfach eine Vergnügen, ihm, der so viele Begebenheiten des Alltags, die gerade sein Blickfeld kreuzten, zum Anlass  nahm daran philosophische Überlegungen zu entwickeln, diese seine Gedankenbewegungen nicht auf und ab schreitend in inneren Selbstgesprächen durch zu gehen, wie er es auch gerne zu tun pflegte, sondern in einem lebendigen Gedankenaustausch mit einem Gegenüber zur Entfaltung zu bringen.
Ich habe in diesen lebensnahen Dialogen mehr von ihm gelernt, als bei seinen durchaus ja auch lebendigen Ausführungen in der Akademie des Platon. Die Anbindung an das Leben, war in diesen Dialogen, z.B. an den Ständen irgendwelcher Händler von einer Unmittelbarkeit durchdrungen, die mich in meinen eigenen Argumentationen immer wieder über mich selbst hinaus wachsen liessen. Es kam nicht selten vor, dass ich über das staunte, was ich gerade selber hervorgebracht hatte.

Saphira: Dieses Erleben kenne ich auch. In der Zeit als ich noch bei Aristoteles in der Akademie weilte, wusste er ja auch schon seine Schüler innerhalb seiner Ausführungen immer wieder in Dialoge einzubinden. Darin war er ein echter Künstler. Unversehens warst Du in einen Prozess verwickelt und Du stauntest am Ende nicht wenig, was sich da mit Dir ereignet hatte. Deshalb bereitete mir ja auch mein Weggang von Aristoteles so grosse innere Schmerzen. Gleichsam zwischen zwei Stühlen stehend verstand ich die Welt um mich herum nicht mehr.
Erst nach Jahren klärte sich dieser Zustand in mir so weit, dass es gut war, was dazumal geschehen war. Ich war innerlich selbständiger geworden und musste nicht mehr zu einem Lehrer aufschauen, wie ich es noch in der Akademie von Platon bei Aristoteles und vorher schon während meiner Ausbildung in Eleusis getan hatte. Dem Vermächtnis meines Vaters folgend errichtete ich mein eigenes Prüffeld innerhalb meiner Erfahrungswelt und konnte darauf zugreifen, wann immer ich es wollte. Ich fühlte mich frei und das machte es mir erst möglich Aristoteles, wie ich jetzt weiss, tiefer zu verstehen.
Es ist schon merkwürdig, was alles geschehen muss, dass Du zu Dir selber hin erwachst, die Kraftgestalt im Denken in Bewegung, was das Ziel von Aristoteles Bemühungen war, sich im inneren Erleben  vergegenwärtigen zu können.

Kretos: Ja, meine Liebe, was muss alles geschehen, damit Menschen ihren Weg zu sich selber sehen und nicht nur das, sondern auch gehen wollen?!
Auf Aristoteles und Platon und ihr Schicksalsgespräch bezogen, umweht mich noch heute immer wieder einmal Erschütterung.
Wir wanderten gemeinsam zur Akropolis hinauf. An diesem Tag aber zogen schwere Gewitterfronten hinter dem Tempel auf, begleitet von einer Schwüle, die uns das Atmen beim Anstieg schwer machte. Auch war der Ton im Gespräch zwischen den beiden deutlich schärfer als sonst, wie mir heute in der Erinnerung darauf erst wirklich sichtbar wird.
Als wir dann oben am Rand des Tempelberges, mit Blick auf die Stadt standen, schwieg Aristoteles urplötzlich. Über Minuten hinweg breitete sich eine Stille zwischen uns aus, die eine beinahe unerträgliche Spannung nach sich zog. Ich sehe ihn, wie er mit seinen Augen die aufziehenden Gewitterfronten zu durchdringen suchte, bevor er dann wieder zu sprechen begann. Seine Worte aber schienen, obwohl nicht besonders laut, wie von einem Fanfaren Klang durchdrungen, der mir eine Erschütterungswelle nach der anderen über den Rücken jagte.
Er stand da wie ein Feldherr, die ganze Kraft des Gewitters wie in sich hinein genommen und wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung des Marktplatzes, wo sich die Händler tummelten.
Mit Blick auf Platon sprach er dann:
"Dort hinunter führt der dialogische Weg, mitten durch den Tumult des Händlergeschreis. Wenn Deine Schüler ihre Dialogfähigkeit, wie Du sie lehrst, nicht dort bewähren lernen, dann werden sie für das Leben untauglich bleiben. Dein Schöngeist wird mit wenig praktischem Nutzen, in endlosen Redeschlachten zum blossen Selbstgenuss  in ihnen verkommen." Dann  schaute er  Platon, wie es mir
Platon
erschien, lang, lange in die Augen und flüsterte: „Ich gehe jetzt mein Freund, denn ich weiss um meinen Weg.“
Platon aber, so als ob er nicht wisse wie ihm geschah, sprach fassungslos mit zittriger Stimme: „Du, mein bester Schüler, gehst?“ 
Aristoteles aber wandte sich darauf hin nur wortlos ab und ging festen Schrittes hinunter in die Stadt. Nach einigen Schritten hielt er aber noch einmal inne, wandte sich um und sprach die folgenden Worte, die schon etwas aus der Tiefe heraus beinahe gespenstisch in ihrem Nachhall herauf tönten.
„Durch die Zeiten hindurch werden wir einander noch oft begegnen, aber Freunde werden wir uns erst wieder nennen, wenn auch Du Deinen Weg durch die Tiefe gefunden und wir, ein jeder für sich, diesen Weg ohne innere Ausflucht gehen. Der versteckt innere Eremit in Dir bremst die Kraft, mit der Du Deine Schüler lehrst aus, sie bleibt in einer ideell-himmlischen Sphäre hängen und kann so nicht durch die Tiefe gehend in der Unmittelbarkeit des Augenblicks aus dem Nichtwissen heraus gegenwartsfähig werden. Du hast die Lehre des Sokrates auf wunderbare Weise weiter gegeben, doch in ihrer Essenz bist Du seinem Weg nicht gefolgt und durch den inneren Tod gegangen. Das aber macht Dich zu einem versteckten inneren Eremiten, zu einem Meister, dem die Augenhöhe zu seinen Schülern fehlt. Des Lebens Quell aber kann sich nur auf dieser Ebene öffnen, - werter Freund!“
Platon ging, nach einer endlos erscheinenden Zeit mit gebeugtem Schritt dem Tempel zu und entzog sich damit den Blitzen des Gewitters, die sich jetzt unmittelbar über dem Tempelberg entluden. Ich aber ermannte mich aus meiner Erschütterung erst wieder, als ich im heulenden Sturmwind die Nässe des peitschenden Regens durch meine Kleider hindurch auf der Haut spürte. Wie ich in die Stadt hinunter in mein Haus gelangte, ich weiss es heute noch nicht.

Saphira: Des Lebens Quell öffnet sich auf Augenhöhe von Du zu Du! Was Aristoteles damit sagte, das habe ich in den zahllosen Gesprächen mit Dir erfahren dürfen. Ich konnte und durfte ein neuer Mensch werden, denn ich habe mich selbst gefunden.

Kretos: Ja, das ist so.

Saphira: Und, bist Du  Aristoteles in den Tagen nach „diesem Gespräch mit Platon“ wie gewohnt wieder begegnet, Du warst doch sein intimster Schüler.

Kretos: Nein und ich kann nicht verhehlen, dass mich das sehr schmerzte. Mir schien es, dass er sich bewusst jedem weiteren Gespräch entzog.
Es dauerte lange bis ich begriff, dass er Platon bei diesem so erschütternden letzten Gespräch eine Frage gleichsam Welten bewegender Dimension, zu klären allein auf dem ureigenen inneren Erfahrungsfeld, hinterlassen - der Schüler dem Lehrer - und mir im gleichen Atemzug ein ganz persönliches Vermächtnis indirekt zugesprochen. Ich war ja in der Zeit vor diesem Ereignis immer wieder über ihn mit den Händlern auf dem Marktplatz ins Gespräch gekommen und begann mehr und mehr zu verstehen, dass er mir den Auftrag den Dialog weiter unter das Volk, im Dialog keimfähiges Mysterien Wissen gleichsam auf die Strasse zu bringen hinterlassen hatte. 
„Die Welt,“  wie ich mich erst sehr viel später wieder erinnerte, so hatte er einmal an einem Händlerstand zu mir gesagt, „wird immer mehr dem Abgrund entgegen taumeln, wenn es nicht gelingt die Mysterien Burgen der Weisheit auch innerlich zu verlassen und auf der Strasse lebendige Dialoge zum Entflammen zu bringen.“ Das also war mein Auftrag und ich folgte ihm fortan, wie Du aus eigenem Erfahren weisst, auf allen mir nur möglichen Wegen.

Saphira: Und was ist mit Platon geschehen? Wie mir zu Ohren gekommen ist, hat er seine Akademie geschlossen!

Kretos: Ja, das hat er und der unmittelbare Anlass für diesen Schritt war jenes Streitgespräch mit Aristoteles.
Wenn ich ihm in der Folgezeit in der Nähe seines Hauses oder sonst in der Stadt einmal begegnete, wirkte er auf mich ein jedes Mal wie ein in sich gebrochener Greis. Er schien beständig über irgend etwas tief traurig nachzudenken. Die Rede des Aristoteles muss ihn unendlich getroffen und nachhaltig erschüttert haben. Es dauerte ein volles Jahr, bis er, wie erwachend aus einem langen schweren Traum, so erschien es mir dazumal, mich vor seiner geschlossenen Akademie ansprach. Seine Augen hatten all ihren früheren Glanz und Kraftausdruck verloren. Es schien fast so, als ob es ihm unendliche Mühe machte die folgenden Worte an mich zu richten.
„Kretos, hat Aristoteles bei unserer letzten Unterredung gemeint, ich sei ein geistiger Eremit?“Ich sah ihn nur mit grossen Augen an und schwieg. Er schaute seinerseits erwartungsvoll auf mich, bevor er nach einer geraumen Weile zu verstehen schien, dass er diese Frage nur allein für sich klären könne. Mir selber aber brach in diesen wie zeitlos gedehnten Augenblicken beinahe das Herz ob seines tiefen Schmerzes. Ich konnte ihm nicht helfen.
Für mich war klar, dass die innere Dimension dieser Frage schwer an ihm nagte. Hatte er doch das Denken, auf das sich auch Aristoteles in ganz eigener lebendiger Weise bezog, auf hohem Niveau ideell begründet. Der Umstand, dass er mit seiner Person sich innerlich in ein geistiges Eremiten Dasein verfangen haben könnte, rüttelte schwer an den Grundfesten seiner Persönlichkeit. Zudem auch noch die Tatsache, dass er Aristoteles verloren, den er unzweifelhaft als seinen Nachfolger in der Akademie gesehen hatte. Beides zusammen zu tragen war ganz offenkundig zu schwer für ihn. Nicht lange danach starb er.

Saphira: Nun, Aristoteles sprach ja davon, wie Du mir erzähltest, dass sie sich in zukünftigen Zeiten immer wieder begegnen würden, ein vor meinem Erfahrungshintergrund unerhörter Vorgang, derartiges Wissen gleichsam in den öffentlichen Raum hinaus Preis zu geben. Dass ihm Mysterien Verrat angelastet wurde, das wundert mich bei einer derartigen Redeweise nicht mehr.
Und doch bewundere ich ihn im gleichen Atemzug ob seines konsequenten Mutes!

Kretos: Welche Feuerkraft in Aristoteles wirkte, das trat ja nicht allzu oft in Erscheinung, seine sprudelnde Unmittelbarkeit in der Rede mit Händlern und anderen Menschen ausserhalb der Akademie hingegen häufig. Das Erstaunliche dabei war, dass dann seine Rede sehr einfach und schlicht im Ausdruck werden konnte. Er schlüpfte gleichsam in  die Redeweise der einfachen Leute wie hinein. Aus dem Kreise des gemeinen Volkes kamen ihm auf diesem Wege immer wieder viele Sympathien entgegen, was für die gebildeten Athener  so nicht unbedingt zutraf.
Ich erinnere mich, nachdem Aristoteles von Athen weggegangen war, dass eines Tages unvermittelt einmal Pausanias, ein Schmied auf mich zutrat und mich ansprach. Ist dein Name nicht Kretos, jener Kretos, der vor Jahren mit Aristoteles in seiner Werkstatt gewesen sei und nach einem nicht ganz alltäglichen Nagel gefragt hätte, den ich zu eurer beiden Glück gerade vorrätig hatte. Entfernt mich erinnernd nickte ich.
Darauf sprach er weiter. Aristoteles sei schon ein bemerkenswerter Mann. Er wäre an jenem Tag länger an seiner Esse gestanden und habe ihm beim Schmieden zugeschaut, bis er urplötzlich fragte, warum ich das Schwert, das ich gerade schmiedete nicht zwischendurch einfach eine Weile aus der glühenden Hitze nähme, um es ruhen zu lassen. Ich brummte nur etwas vor mich hin und antwortete darauf weiter nichts. Aristoteles aber verliess wenig später meine Werkstatt mit einem merkwürdigen Lächeln, woran ich mich erst erinnerte, wie das Schwert, das ich dazumal schmiedete, nur wenige  Monate nachdem ich es verkauft, zerbrochen wieder zurück in meine Hände gelangte.
Hier unterbrach ich seine Erzählung und sagte, ja genau so sei es gewesen. Ich hätte Aristoteles im Hinausgehen noch gefragt, warum er denn so lächele, er habe auf seine Frage hin doch nur ein abweisendes Brummen zu hören bekommen, worauf er nur weiter lächelte und durch dichte Menschentrauben beschwingten Schrittes auf einen Gemüsestand zustrebte, den er regelmässig aufzusuchen pflegte.
An dieser Stelle schauten der Schmied und ich einander in die Augen und lachten, gemeinsam erkennend, dass Aristoteles das Zerbrechen des Schwertes wohl voraus gesehen habe.
Sich auf die Brust schlagend, fuhr Pausanias dann fort weiter zu erzählen, habe er im Rückgriff auf die seinerzeitige Frage von Aristoteles einige Versuche unternommen, um herauszufinden, was Aristoteles durch seine Frage ihm habe sagen wollen. Und er sei fündig geworden. Er habe die Spannungsprozesse beim Schmieden mit verschiedenen Metallen unterschätzt, hätte nicht genau genug hingesehen, was da unter seinen arbeitenden Händen geschah, sonst hätte er den Hinweis von Aristoteles schon damals verstanden.
Inzwischen habe er seine Schwert Schmiedetechnik nun soweit verbessern können, dass er in dieser Kunst bereits zu einem Geheimtip in gewissen Kreisen zu werden scheine. Bei Aristoteles könne er sich für dessen sehr Gewinn bringenden Hinweis leider nicht bedanken, da dieser seit längerer Zeit Athen verlassen habe. 
Er achte aber mittlerweile bei seinen Lehrlingen sehr darauf, dass sie ihr Beobachten auf das eigene Tun hin übten. Auf diese Weise halte er das Andenken an diese Begegnung mit Aristoteles hoch und erzähle auch immer wieder einmal, was er Aristoteles verdanke, wenn ihm da oder dort in einer Unterhaltung eine abfällige Bemerkung über dessen Schriften begegne.
Im nach hinein betrachtet, habe sich diese Begegnung geradezu als eine „Lehrstunde“ von grosser Tragweite erwiesen. Er beobachte sich in seinem Verhalten zu seinen Mitmenschen seither viel intensiver und habe dadurch einen völlig neuen Zugang zum Leben gewonnen. 

Saphira: Mein lieber Kretos, Du weisst, dass ich mich in meinem Denken und Erleben nicht über das so genannte gemeine Volk stelle, denn Bescheidenheit zu leben ist eine meiner wichtigsten Lektionen, die gelernt zu haben ich Aristoteles verdanke.
Mir ist es bei seinen Unterweisungen in Platons Akademie nicht selten passiert, dass ich, während er vor uns Schülern auf und ab gehend seine Gedanken entwickelte, ich seine äussere Gestalt wie völlig aus den Augen verlor, so nahm er mich in seine Rede mit hinein. Ich gelangte innerlich zu einem unmittelbaren Gleichklang mit seiner Rede, ohne aber und das ist mir in der Rückerinnerung das Ausserordentliche an diesem meinen Erleben, mich selber dabei zu verlieren.
Aristoteles besass in seinem Reden eine Fähigkeit, in deren Folge er seinen Zuhörern das Äusserste an innerer Aktivität abverlangte, sie deshalb aber auch völlig frei liess. Er band seine Schüler nicht an sein Wort, freute sich vielmehr, wenn ihm widersprochen wurde und er sich mit dem Widersprechenden gemeinsam auf einen Weg der genaueren Erkundung des jeweiligen Sachzusammenhanges machen konnte.
Im Gegensatz zu so manchem Mysterien Vertreter war er gänzlich uneitel in seinem Auftreten. Und genau dies brachte ihm beim gemeinen Volk auf dem Marktplatz und in den Strassen immer wieder viele Sympathien ein. Wenn er sich dort in ein Gespräch verwickeln liess, so war er einer von ihnen, fern allen Dünkels. Selbst was seine Kleidung betraf, liess er äusserste Einfachheit walten. Wer ihn von der Akademie her nicht kannte, der konnte nicht vermuten einen Gelehrten vor sich zu haben, geschweige denn noch dazu einen der gelehrtesten Menschen seiner Zeit und genau deshalb traf ihn auch so viel Neid.

Kretos: Neid und Vorurteil vertrieben ihn ja schlussendlich auch endgültig aus Athen, sodass er nicht am Hauptort seines geistigen Wirkens, sondern auf seinem Landgut in Euböa verstarb.
Ich habe Dir ja erzählt, dass ich Aristoteles nach seinem Schicksalsgespräch mit Platon nicht mehr begegnete. Hier aber muss ich etwas ergänzen. Ich begegnete ihm viele Jahre nicht mehr. Erst als er mehr als 10 Jahre nach Platons Tod seine eigene Schule in Athen begründete traf ich ihn wieder. Er fragte mich, ob ich an seiner Schule unterrichten wolle. So sehr mich diese Frage überraschte und mich gleichzeitig auch freute, so wusste ich unmittelbar, wie ich ihm darauf zu antworten hätte.

Saphira: Und, hast Du ihm zugesagt. Für mich gibt es nämlich keinen Schüler des Aristoteles, der für diese Aufgabe geeigneter gewesen wäre als Du.

Kretos: Nein, denn ich hatte beim Lesen seines Briefes innerlich sofort erfasst, dass er mich mit dieser Frage prüfen wollte. Und genau dieses sagte ich ihm auch.
Ich hätte erkannt, dass meine Aufgabe darin bestünde den Dialog auf die Strasse zu bringen. Im Nachklang an jenen ereignisreichen Gewitterabend auf der Akropolis sei mir das sehr bald klar geworden und so bedankte ich mich, anstatt ihm auf sein Angebot hin an seiner Schule zu unterrichten zuzusagen für die strenge Distanz, die er seit diesem Tag mir gegenüber hatte walten lassen, denn genau dies hätte mir ermöglicht meinen Weg zu finden und zu gehen. Aristoteles lächelte darauf und sagte:
„Ein Meister muss seine eigenen Wege gehen und umarmte mich warmherzig.“

Einen Augenblick lang wusste ich nicht wie mir geschah. Aristoteles umarmte mich! Bei aller Herzlichkeit, die er in meinem Dabeisein auf den Strassen von Athen in früheren Jahren immer wieder gezeigt, er hatte niemals einen anderen Menschen umarmt und es war mir auch von anderer Seite nicht zu Ohren gekommen, er habe so etwas jemals getan.
Ich wusste, dies war eine ausserordentliche Geste der Wertschätzung durch ihn. Er erhob mich damit gleichsam in einen Rang mit ihm und das beschämte mich im gleichen Atemzug. Er  aber spürte meine innere Betroffenheit und sagte mit leiser Stimme:
„Kretos, Du bist einer der Wenigen meiner Schüler, der mich zutiefst verstanden hat.“

Saphira: Kretos, Dich hörend, geht mir ein Licht auf. Könnte es sein, dass Aristoteles mich seinerzeit gezielt aus der Akademie vertrieb?

Kretos: Bei dem Weitblick, den ich bei Aristoteles im Umgang mit Menschen immer wieder erfahren habe, die Episode mit Pausanias, von der ich Dir berichtet habe, ist nicht die einzige, die ich an seiner Seite erleben durfte, spricht sehr viel dafür, dass Aristoteles Deine Flucht aus der Akademie gezielt provoziert hat. Er wusste mit seiner Bemerkung über Ephesus, dass er damit bei Dir einen sehr empfindsamen Nerv treffen würde.

Saphira: Wenn ich mich genau besinne, dann war dieses Ereignis der zündende Funke für mein Erwachen zu mir selbst hin. Im Grunde nicht unähnlich der inneren Verfassung, in die er Dich später dann auf der Akropolis und in den Jahren danach versetzt hatte. Radikale Auseinandersetzung mit Dir selbst, ohne irgendeine Hilfestellung durch ihn. Auch Du konntest damals nur zu Dir selbst erwachen. Kein leichter Weg, aus dieser Nähe zu Aristoteles so abrupt in die Selbständigkeit gestossen zu werden.

Kretos: Du sagst es. Ich muss Dir dann aber noch von einer letzten Begebenheit mit Aristoteles berichten. Du hast ja Jahre nach der von mir berichteten erneuten Begegnung mit Aristoteles, mit mir auch Deinerseits einen Brief von Aristoteles erhalten. Tragischerweise gelangte dieser Brief erst in Deine Hände, als Aristoteles bereits tot war, denn Du warst zu dieser Zeit auf Reisen in Ägypten, als er ankam. So konnten mit mir nur eine Hand voll Schüler dem Ruf des Aristoteles nach Euböa folgen.
Als wir auf seinem Landgut ankamen und Aristoteles begegneten, spürten wir alle, dass dies die letzte Begegnung mit ihm sein würde. Sein innerer Kampf sich beinahe ein ganzes Leben lang von den Vertretern der verschiedenen Mysterien Schulen kraftvoll absetzten zu müssen, um einer neuen Zeit die Wege zu bereiten, die er wohl als einziger so klar kommen sah, hatte ihn sichtbar gezeichnet. Er war ein sterbender Mann.
In seiner letzten Unterredung mit uns kam er noch einmal auf Platon zu sprechen. Er sagte, der entscheidende Grund für seine Trennung von ihm hätte sich aus der zuletzt sehr heftigen Auseinandersetzung um dessen Schrift: „Das Höhlengleichnis“ ergeben. Mit einem Blick auf mich sagte er, ich wisse ja aus eigenem Erleben, was dazumal geschehen sei, hätte die Auseinandersetzung unmittelbar mit bekommen. Er sei an diesem Tag vor die schwerste Entscheidung seines Lebens gestellt gewesen, denn das heftigste Streitgespräch, das er jemals mit Platon geführt, hätte an diesem Gewitter Spätnachmittag zugleich auch den endgültigen Bruch mit dem alten Mysterien Wesen nach sich gezogen.

Saphira: Wie schwer der Abschied von der alten Mysterien Welt einem werden kann, das habe ich am eigenen Leib nur allzu schmerzhaft erfahren müssen. Wenn ich mich genau besinne, dann ist dieser Prozess immer noch nicht ganz abgeschlossen, denn ansonsten wäre ich zu der Zeit, als Aristoteles auch mich nach Euböa einlud in Athen gewesen und nicht in Ägypten, um einen „letzten Vertreter“ noch lebendiger alter Mysterien Kultur persönlich aufzusuchen.
Mein Leben, so scheint es mir jedenfalls heute, da Aristoteles nun nicht mehr unter uns weilt, ist zwischen Treue und Mut immer wieder sehr hin und her gerissen worden.

Kretos: Ja, Mut brauchte es auch für Aristoteles, Platons Höhlengleichnis so auf den Kopf zu stellen, wie er es an jenem Gewitter Spätnachmittag getan hatte, einen grossen Mut. Sein Verständnis dieses Gleichnisses stellte nämlich im Grunde die ganze Lebensarbeit von Platon in Frage. Aristoteles hielt Platon in diesem so heftigen Streitgespräch nämlich nicht weniger als dieses vor:
„Du sperrst das Denken in einer von der Welt abgehobenen Sphäre ein, staust seine tatsächliche Wirkkraft in sich zurück, wenn Du davon ausgehst mit dem Austritt aus der Höhle sei das Ziel erreicht.“  
Der eigentliche Weg beginnt nämlich erst dort, wo der Schüler sich der Prüfung durch die Strahlenkraft der Sonne gegenüber gestellt sieht. Die Sonnenkraft will zur fliessenden Kraft innerhalb des eigenen Denkens werden. Denken als Sonnen-Licht-Tätigkeit, das stand Aristoteles für die neue Zeit vor Augen.
Ich habe noch heute Aristoteles innerlich unmittelbar vor Augen, wie er Platon die Worte entgegen hielt:
„Das Heraustreten aus der Höhle und das Stehen des Erkenntnis Wanderers gegenüber der Sonne ist der Anfang des Weges. Das Ziel ist es an den Grund der Höhle zurückzukehren und dort in einer inneren Selbstkonfrontation die Erfahrung zu machen, dass Du selbst es warst und bist, der sich in Fesseln schlägt und Du im Grunde niemals gefesselt warst.“
Platon zitterte am ganzen Körper, als er diese Worte vernahm. Er schien zu spüren, dass darin Wahres lag, was sich für mich in einem Zögern, einem krampfhaften Suchen nach Worten ausdrückte. Er schien einfach den  inneren Schlüssel nicht zu finden, um diese Worte in sich auch verifizieren zu können. So schleuderte er Aristoteles schliesslich zornrot die Worte entgegen:
„Du irrst. du irrst, bei meinem gesamten wissenschaftlichen Werk, Du irrst mein Freund.“ 
Tragisch ist, dass Platon sich mit diesen Worten seinen eigenen Irrtum eingestand, ohne es selber zu merken! Aristoteles aber schwieg darauf innerlich sehr gefasst und sprach erst wieder, als wir die Akropolis Höhe erreicht hatten. Doch was dort geschah, das habe ich Dir ja schon erzählt.

Saphira: Mich in Deine Schilderung hinein versetzend, sie erlebend in mir nachempfindend, sehe ich Aristoteles in dieser letzten Begegnung mit Platon innerlich das Dunkel der Höhle betreten und festen Schrittes deren Grund zustreben. Er wirft alle Fesseln, die ihn noch an Platon binden ab und durchbricht sein Zaudern gegenüber den alten Mysterien, um sich endgültig auf seinen eigenen Weg zu machen.
Ich sehe Platon, den Höhleneingang vor sich mit der Möglichkeit Aristoteles zu folgen. Seine Furcht aber, bis dahin völlig unbekannte Welten zu betreten, ist zu gross. Seine Einbindung in eine innerlich himmelwärts ausgerichtete Ideenwelt hält ihn zurück. Er verschleiert zum wievielten Male vor sich, was er spätestens seit seinen Erfahrungen auf Sizilien weiss, dass die Welt nicht zu verändern ist, wenn Du selbst das Dunkel scheust, es in Dir nicht umwandelst.
Welch ein Mut von Aristoteles und welche Tragik im Erleben von Platon. Im Grunde ein Bild auch für den Mysterien Niedergang und die Eröffnung eines Pfades in die neue Zeit.

Kretos: Die neue Zeit: Aristoteles hat für uns, die wir nach Euböa kamen noch Worte gefunden, über die er uns jedoch zu schweigen bat, mit der einen Ausnahme sie an Dich zu übermitteln, was ich hiermit tue.
Ich kann nur sehr andeutend die besondere Atmosphäre wiedergeben, die uns alle umfing, als Aristoteles diese letzten Worte an uns richtete. Es schien ihm eine grosse Mühe zu machen und er musste alle ihm noch verbliebene Kraft aufwenden um dieses zu tun. Sein Antlitz war von einem Schmerz gezeichnet, den ich nicht beschreiben kann. Wenn ich jetzt darauf hin schaue, dann zerreisst es mir fasst das Herz Aristoteles so sprechen zu hören. War er doch selbst mit den alten Mysterien verbunden und, was Du vermutlich nicht weist, in Eleusis gewesen. Er hatte dort aber von sich aus seine Ausbildung nach tiefen inneren Erlebnisen abgebrochen. Davon sprach er jetzt zu uns.
„Es war Nacht, als ich bei meinen Übungen urplötzlich von einem überirdisch hellen Licht wie umhüllt wurde. Das Licht war so stark, dass es mir fast die Besinnung zu nehmen drohte. So dauerte es, ich weis heute nicht mehr wie lange, bis ich mich in diesem Zustand zurechtfand. Erst dann spürte ich, dass dieses Licht nicht von aussen kam, sondern tief aus meinem Herzen strahlte  und von dort den ganzen Raum erfüllte.
Das Licht war in mir, ich konnte es innerlich anschauen und war doch zugleich auch eins mit ihm. Ich spürte seine Kraft, die mir bis in die Füsse hinunter drang und gleichzeitig in meinen Kopf eine unbeschreibliche Wachheit hervor brachte. Eigentlich hätte ich, wie mir erst später klar wurde, zu dieser Zeit sehr müde sein müssen, denn ich hatte bis zu diesem ausserordentlichen Augenblick über die Massen hinaus geübt und gearbeitet.
Diese voraus gehend aufgebrachte Anstrengung schützte mich jedoch auch davor, was ich erst sehr viel später zu verstehen begann, innerlich nicht die Fassung zu verlieren. So konnte ich die fast sphärisch tönende Stimme vernehmen, die unmittelbar über meinem Haupt zu mir zu sprechen schien ohne dass ich einen Sprecher dort ausmachen konnte. Als ob sich ein Überraum geöffnet hätte, aus dem die Stimme zu mir sprach, so schien es mir im ersten Augenblick. Und  doch war dieser Überraum ebenfalls in mir, nicht aber wie das Licht strahlend aus meinem Herzen, sondern vielmehr einen vergrösserten Kopf bildend, aus dem gleichsam zu mir gesprochen diese Worte tönten:
„Ich bin auf dem Weg hinein in die Erdenwelt, um mich in naher Zukunft mit einem Menschen voll und ganz zu verbinden, in ihn hinein zu sterben. An Dir ist es, mir die Wege zu bereiten, dass dieses Menschen Opfer für die gesamte Menschheit mich ganz in sich aufzunehmen nicht umsonst sein wird und ich aus dem Samenwurf dieses Menschen dereinst durch Menschen wiederum die Möglichkeit haben werde aufzuerstehen. Auf dass der Menschen Seelen nicht ganz verdunkeln, muss die Sonnenkraft sich opfern.“


Saphira: Das grosse Ich, es stirbt hinein in den Menschen. Nicht mehr muss der Mysterien Schüler durch bestimmte Übungen auf einer fortgeschritteneren Stufe seiner Entwicklung aus seinem Körper hinaussteigen, um dem Sonnengeist zu begegnen, sich mit ihm zu vermählen, der Mensch wird dereinst in in seinem Denken für den Sonnengeist erwachen und erleben wie dieser ihn seine Wege führt.
Ich sehe sie innerlich vor meinen Augen, die hohen Herren der verschiedenen Mysterien Schulen, nicht wenige von ihnen hätten dafür gesorgt, dass Aristoteles zu Tode gekommen wäre, wenn dieses Erlebnis öffentlich geworden wäre. Zudem wird mir jetzt erst wirklich klar, welche Gratwanderung Aristoteles ein Leben lang zu meistern hatte, immer auf Schwertes Schneide in einer gleicherweise non verbalen, wie tatsächlich oft auch sehr hinterhältigen Auseinandersetzung um den echten Mysterien Weg. Aristoteles schwieg also, verlies die Schule von Eleusis und suchte Anschluss an die Akademie von Platon.
Er musste sehr jung gewesen sein, als er nach Eleusis kam, denn um ein derartiges Erlebnis mit einer solchen Wachheit haben zu können bedarf es selbst bei einer besonderen Eignung für den Mysterien Weg einiger Vorbereitung, um den Geist so zu schulen, dass er die einzelnen Vorgänge in diesem Erlebnis so klar unterscheiden konnte, wie Aristoteles dies mit noch nicht einmal siebzehn Jahren vermocht hat.
Derjenige, der ihn in Eleusis aufnahm musste ein besonderes Auge für die Qualitäten dieses so jungen Menschen gehabt haben und gleichzeitig einen Status in Eleusis, unter dessen Schutz Aristoteles Eleusis verlassen konnte, ohne dass auch nur eine entfernte Ahnung über die wahren Gründe nach aussen dringen konnte. Ein wahrlich ungewöhnlicher Vorgang. Du weisst, ich kenne Eleusis in und auswendig in allen seinen Strukturen und menschlichen Besonderheiten. Nur ein Eingeweihter konnte ihm diesen Schutz gegeben haben und rückblickend gab es ausser meinem Vater in meinen Jugendjahren nur noch einen, der diesen Rang einnahm.
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sich Aristoteles überhaupt keinem Menschen anvertraut hat, bevor er Eleusis verlies. Jemand musste ihm seinen weiteren Weg gewiesen haben, jemand, der über den damaligen Zustand der Schule von Eleusis hinaus zu sehen vermochte, jemand, der tiefer in eines Menschen Seele schauen konnte und darauf bauend unbeirrt das tat, was der Geist ihm gleichsam zuflüsterte. Jemand, der Platon kannte und eine Verbindung zu ihm herstellte, noch bevor Aristoteles an die Pforte der Akademie klopfte.
Dieser junge Mensch musste mit Bedacht geführt werden, wenn er seine Bestimmung dereinst sollte finden können. Platon hatte demnach aus einer von höchster Stelle ausgesprochenen Bitte aus Eleusis heraus gehandelt, als er Aristoteles so jung in seine Akademie aufnahm. Und er hat über 20 Jahre hinweg über den weiteren Weg dieses Menschen gewacht.

Kretos: Von daher betrachtet bekommt das Höhlengleichnis von Platon noch eine ganz andere schicksalhafte Färbung für Platon, wie für Aristoteles. Ich kann das nur ganz zart berühren. Saphira, Du wirst es in Deiner Seele gewiss zu einem lebendigen Bild erschaffen können.
Für mich kristallisiert sich, jetzt nach vielen Jahren, jedenfalls immer deutlicher heraus, dass Platon mit dem Höhlengleichnis seinem Schüler Aristoteles das Tor geöffnet hat, um dessen Erlebnis aus Eleusis tatkräftig in die Welt hinaus tragen zu können. Sein Schicksal war es nicht diesen Weg in die dunkle Tiefe hinein zu gehen, seine Aufgabe war es allein einem anderen Menschen den Weg dort hinein zu weisen. Platon wurde also zum tragenden Brückenpfeiler für den weiteren Weg des Aristoteles. Vom Denken her durch Platon bestens ausgebildet, konnte Aristoteles jetzt „sein Erlebnis aus Eleusis“ als Geburtskeim der Individualität, hervorgehend aus dem Denken, in die Welt hinaus aussäen.
Platon und Aristoteles sind mit Sokrates, dem Lehrer von Platon, aus meiner Sicht so die Hebammen einer zur Freiheit und Selbstverantwortung sich auf den Weg machenden Menschheit.

Saphira: Der Kreis schliesst sich. Platon und Aristoteles als zwei Brüder im Geiste!

Kretos: Aristoteles sprach in diesen Stunden, da wir ein letztes Mal um ihn geschart, als seine Schüler mit ihm vereint waren voll grosser Ehrfurcht über Platon. Wie er andeutete, verdanke er seiner dialogischen Schulung die Aufarbeitung noch eines weiteren sehr starken inneren Erlebnisses, das er seinerzeit in Eleusis gehabt hätte. Er könne und dürfe darüber gegenwärtig aber nichts Näheres sagen, da darüber zu sprechen nicht alleine seine Angelegenheit wäre.
Er sagte nur soviel, dass dieses Erlebnis zurück gehe auf ein Mysterien Geschehen in Eleusis, bei dem eine junge Frau und er in einem hoch behüteten geheimen Tempelschlaf einen teilweisen Seelentausch vollzogen. Wie er erst unter der Schulung des Platon sehr  viel später verstanden habe, sei dies als Vorbereitung für ein Zusammenwirken  von Mann und Frau für ein zu erneuerndes Mysterien Wesen in zukünftigen Zeiten geschehen. Er nehme jetzt diesen Keim mit sich, um ihn in späteren Zeiten, wenn die Zeit dafür gekommen sei, mit dieser jungen Frau zusammen zu eröffnen. Gleichzeitig legte er uns sehr ans Herz die dialogische Kunst „lebendig“ weiter zu entwickeln und alles zu tun, was uns möglich sei sie lebensnah, begleitet von einem wachen Denken, in die Welt hinaus zu tragen.

Saphira: Ich kann Aristoteles nur zu gut verstehen. Es gab in Eleusis Mysterien Handlungen, von denen weder der Grossteil der dort Lehrenden noch die Schüler, selbst wenn sie weit fortgeschritten waren, etwas wussten. Wenn ich die wenigen Andeutungen des Aristoteles recht verstehe, dann war Eleusis im Hinblick auf diese so verborgen gehaltenen Mysterien Handlungen „noch zukünftig ausgerichtet.“ Dass Aristoteles nach diesen inneren Erlebnissen aber Eleusis verlies, das ist für mich zugleich auch ein Hinweis, dass Eleusis über diese Keimbildung in einigen wenigen Schülern hinaus, für die weitere Entwicklung und Schulung derselben nichts mehr zu tun wusste. 
Bei Aristoteles können wir sehen, dass diese Mysterien Handlungen offenkundig erfolgreich verlaufen sind, denn er hat seinen Weg gefunden. Wie das aber in Folge möglicher weiterer derartiger Mysterien Handlungen bei anderen jungen Menschen verlaufen ist, das wissen wir nicht. Möglich, dass uns die Zukunft darüber einen näheren Aufschluss  gewährt.

Kretos: Du zeigst Dich wirklich sehr einfühlsam, Saphira. So wirst Du auch die folgenden Hinweise von Aristoteles zu seiner Akademie im rechten Lichte verstehen können. Er sagte nämlich:
"Ihr werdet euch vielleicht schon gefragt haben, warum ich keinen Schüler aus meiner Akademie zu dieser letzten Unterredung gerufen habe? Nun, ich habe es getan, weil diese Akademie zwar noch einige Zeit fortbestehen wird, es wird in ihr aber immer weniger von meinem Geist fortwirken können. Die innere Kraftgestalt des Denkens, der bei allen meinen lehrenden Bemühungen mein Hauptaugenmerk galt, sie wird sich verflüchtigen und schliesslich ganz aus dem Blickfeld derjenigen herausfallen, die meine Worte konserviert weitertragen werden."
Zu mir gewandt sprach er weiter:
"Du Kretos hättest die Akademie in die neue Zeit hinein führen können. Ich habe mit Deiner Ablehnung an meiner Akademie unterrichten zu wollen seinerzeit aber unmittelbar verstanden, dass mein grösstes Anliegen, Bewusstheit für die innere Kraftgestalt des Denkens zu vermitteln, als Keim auf den Wegen über das einfache Volk viel wirkungsvoller weitergetragen und weiter entwickelt werden kann."

Saphira: Es geht also darum nicht über Bewusstheit zu reden, sondern sie zu leben! Dies wiederum ist nur möglich mit einem Mut, mit dem Aristoteles seinerzeit die Höhle betreten hat, um dann mit der wachsenden Intensität im eigenen Denken alle „dunklen Begrenzungen,“ die selbst auferlegten Fesseln schlussendlich zu sprengen.
Dem Erleben des Aristoteles in Eleusis folgend geht es darum der inneren Sonnenkraft zu begegnen, mit ihr eins zu werden ohne sich dabei selber zu verlieren und durch eine selbsttätig entwickelte Intensität eine nach innen umgestülpte, mehr und mehr erwachende, Kraftbewegung zur Entfaltung zu bringen.

© Bernhard Albrecht Hartmann, 28.12.2013

Die Fortsetzungen dieses Dialogs sind zu finden unter:
2.Teil:
https://ich-quelle.blogspot.com/2015/01/unter-der-platane-ein-dialog-uber-die_10.html
3.Teil:
https://ich-quelle.blogspot.com/2017/04/ein-dialog-uber-die-zeiten-hinweg-im.html
Eine vierte Fortsetzung ist in Arbeit.