Freitag, 23. März 2012

Im Vorhof der Stille

Innerhalb der Prozessbewegungen im Sich-Begegnen von Ich und Du ist der Vorhof der Stille vielleicht das am schwierigsten mit innerem Erwachen zu durchdringende Prozessfeld. Geht es hier doch um die Auflösung der dualen Beziehung im wechselseitigen einander mehr oder weniger erlebendem Anschauen und Begegnen. Steht im Mittelpunkt das langsame Bewusst Werden der Beziehung zwischen einem im bisherigen Entwicklungsgang auf das eigene Selbstbild bezogenen Handeln, hin zu einer werdend bewegt in Bewegung hervor gebrachten inneren Ich - Dynamik, die gleichermassen im Denken, wie im Fühlen und Wollen verankert ist.

Die zahlreichen latenten Konfliktprozesse, die hier kalt auf diversen inneren  Abstraktionsregalen lagern oder mit der beständigen Möglichkeit zu explodieren in Druckkammern weggesperrt sind, oft über Jahre hin, sie fordern das werdend in die Wachheit zu sich aufstehende Ich heraus. Bist du bereit Dein Sein und Werden auf nichts anders als Dich selbst zu stellen, Dich den mit Bestimmtheit an Dich heran tretenden zahlreichen „inneren Ausflüchten“ ein jedes Mal neu zu stellen?
Nondualität, wie von Ken Wilber beschrieben, muss aus der Abstraktionsfalle oder Abstraktionszurückhaltung heraustretend, erlebend in seiner inneren Prozessbewegungen vergegenwärtigt werden. Wenn das geschehen kann, dann ersteht daraus ein wachsend wacher werdender Ich - Prozess. Ein Ich Prozess praxisnah auf den „Weltengrund“ hin bezogen, wie Rudolf Steiner es in seinen Grundlinien einer Erkenntnistheorie beschrieben hat, ein Ich - Prozess aus der Stille heraus, kreativ unterschiedliche spirituelle Strömungen zusammenführend, in exakter Wachheit, anstatt im Gegeneinander eine mögliche gemeinsame Zukunft zu verlieren.
Die Zeiten dualer Auseinandersetzungen sind vorbei, ob äusserlich geführt oder innerlich versteckt hinter allerlei „egoistischen“ Ängsten oder Überheblichkeiten. Die diesen zu Grunde liegenden inneren Prozesse treten immer unabweisbarer vor die Schranken  des eigenen selbstverantwortlichen Tuns.
Jedem tatsächlichen äusseren Entwicklungsgeschehen geht eine innere alchemistische Auseinandersetzung im Zusammenhang mit inneren psychischen Strömungsvorgängen voraus. Wo diese Arbeit vorweg nicht geleistet wird, können sich auch soziale Prozesse im näheren eigenen Umfeld oder im weltweiten Geschehen nicht verändern. Und auf welchem Pulverfass wir hier sitzen, das kann ein Jeder heute wissen. Eine zukünftige Entschuldigungslinie: Das habe ich/wir nicht gewusst, diese ist schon von heute her ausgeschlossen.
Zu oft ist ein jeder, mich eingeschlossen, hier schon vor diverse Tore zum Ergreifen eigener Selbstverantwortlichkeiten gestellt worden und sei es nur dahin gehend, dass er mit diversen Aggressionspotentialen im Umgang mit Menschen seiner nächsten Umgebung innerlich „anders“ umgeht. Solche nicht selten still vor sich hin brodelnden Prozesse, selbst illusionierend mit dem Feigenblatt der Friedfertigkeit oder vordergründig formalisierender Sachlichkeit garniert, wirken letztendlich in verborgenen Stimmungslagen dennoch nach aussen. Sie wirken nachhaltiger, weil das aggressive Gift langsam soziale Bezüge unterwandert und auf diesem Weg unreflektierte antisoziale Haltungen an die Oberfläche des Geschehens treibt, ohne dass die beteiligten Menschen sogleich bemerken, was sie da eigentlich tun.
Die psychischen Vorgänge hier, finden ihre Widerspiegelung in  z.B. äusseren sozialen Gewaltprozessen. Alles ist mit allem verbunden und „Ich“ kann mich nicht mehr aus der Verantwortung für dieses oder jenes Geschehen herausnehmen. Dass dieses oder jenes geschieht, in Afghanistan oder vor meiner Haustüre in einer Schlägerei unter Jugendlichen, dazu habe ich mit beigetragen, in dem ich eigene Aggressionspotentiale unter den Teppich gekehrt habe, anstatt mich ihnen innerlich zu stellen und sie ohne Abspaltung nach aussen, sachlich vor dem eigenen inneren Auge anschaulich aufzulösen.
Für mein Denken und Empfinden bin ich und ist niemand sonst verantwortlich. Nicht der anderer Mensch ist der Auslöser für dieses oder jenes Empfinden in mir, sondern ich bin nicht wach genug, sodass mich ein Sagen aus meinem sozialen Umfeld schlicht auf dem falschen Fuss erwischt, ein bereits verborgen vorhandenes Aggressionsfeld in mir neu animiert und mich von dort her innerlich umhaut.
Dass ich aus dem Gleichgewicht geraten bin, dafür kann ich einen anderen Menschen ehrlicherweise nicht verantwortlich machen. Dafür, dass ich mich in einer Burg der Schöngeistigkeit oder des erkenntniswissenschaftlichen Purismus verschliesse, die Welt draussen nur über den Gartenzaun hinweg, ohne tatsächlichen Sinn für meine ganz konkret zu Tage liegenden  Selbstverantwortlichkeiten erlebe, dafür bin ich verantwortlich.
Stammtisch Verhalten zeigt sich nicht nur an diversen Stammtischen, sondern ist überall im „Mäkeln,“ z.B. mit meinem Wohnungsnachbarn im Treppenhaus, verborgen. Überall bei derartigen Anlässen meines Alltags bewege ich mich in verstecktem „Man - Gehabe“ anstatt im Ich. Ich bin nicht auf Augenhöhe zu mir und schon gar nicht zu dem Weltgeschehen, das ich unmittelbar vor Augen habe. Ich lebe abgekoppelt zu meiner Selbstverantwortung, die mich vielleicht gerade jetzt zur Tat ruft.
Mich ruft in Mitgefühl dem Menschen neben mir zuzuhören! Der Verzicht auf ein „dagegen“ Argumentieren, bewirkt, mit einem gewissen inneren Abstand betrachtet, nicht selten genau jene Lebenswendung, die kein unmittelbares Argumentieren hätte herbeiführen können. Vielleicht nicht kurzfristig, aber sicher genau dann, wenn die Zeit dafür reif ist. Kehrtwendung durch eigene innere Einsicht, auf dem Boden geschenkten Mitgefühls.
Mitgefühl als  der Zündfunke durch den in anderen Menschen der innere Blick für selbstverantwortliches eigenes Tun aus dem Ich auferstehen kann. Stille innere Zuwendung, ein viel zu wenig beachteter, Wachstum fördernder Vorgang in heutiger Zeit.

Bewegt in Bewegung im Vorhof der Stille!

Bernhard Albrecht