Dienstag, 22. Januar 2013

Über den Widersinn des Erlebens von Grenze

Über das Nichts zu reden scheint in gewissen Kreisen heute um sich zu greifen. Eine Grenze wird irgendwie erlebt, über die es einem hinaus drängt, die jedoch bei näherer Betrachtung möglicherweise nicht in der Art überschritten werden kann, wie es auf den ersten Blick hin als dunkle Möglichkeit mir vor Augen zu treten scheint. Was liegt da näher, als dieses numinosen Zustand, der gerne am ultimativen Ende einer Erkenntnis- und Selbsterkenntnis Auseinandersetzung gesehen wird, als Jenseits - Nichts oder auch Leere zu bezeichnen.
Nun, in den Grenzen des auf sich selbst bezogen Seins, in dem das Ego sich bewegt, scheint dieses Jenseits - Nichts das einzig mögliche Konstrukt extrapolierender Vorstellungsbildung innerhalb eines möglichen Erkenntnis Horizontes zu sein, welche mir eine bestimmte meditative Erfahrung plausibel machen kann. Wie weit dieses Nichts dann auch tatsächlich erlebt wird und was es mit dem möglicherweise blossen  Anschein eines derartigen Erlebens auf sich hat, das ist eine andere Frage. Eindeutig ist wohl die Tatsache eines Bedürfnisses diese Grenze zu überschreiten, die Fesseln des Ego zu sprengen, dessen Grenzinnenraum doch immer wieder gerne aufgesucht wird, um bei auftretenden Unsicherheiten oder auch gegenüber etwas, das als Gefährdung unterschwellig erlebt wird, Halt findend sich abzuschotten.

Grenze: Taste ich mich an dieses Wort heran, so kann mir eines klar werden: Ich kann nicht aus meiner existenziellen Haut heraus schlüpfen, auch nicht auf dem Weg über einen sogenannten leibfreien Zustand. Ich erfahre mich auch in dieser Formdynamik des Seins als existierend. Wenn ich den Wechsel meines Bewusstseins in diese Daseinsdynamik hinein als eine Grenzüberwindung bezeichnen möchte, dann ist es kein Wechsel in ein so genanntes Nichts hinein. Die Frage ist zudem, ob ich damit auch tatsächlich eine Grenze überwinde oder zum Inhalt meines Erlebens einfach eine anders  geartete  K r ä f t e d y n a m i k  wird.

Mein Ego versucht mich gerne auf alle nur erdenkliche Weise innerlich anzuzünden, meinen Erlebnisraum nach dieser übersinnlichen Seite hin zu erweitern, es lässt mich aber wohl weisslich im Unklaren darüber, welche Kräfte ich dazu brauche, mich in diesem Bereich dann auch sicher bewegen zu können.
Gewisse heute, auch öffentlich geübte meditative Praktiken führen, nachdem der „Affentanz“ bestürmender Gedanken beruhigt ist, dem Anschein nach in eine Art Erfahrung von Nichts oder Leere. Dem Anschein nach, denn sobald der innere Beobachter in der Meditation mitgeführt wird, ergibt sich da für den Beobachter diesbezüglicher Prozess -Szenarien nicht ein anderes Bild von dem, was da geschieht und erlebt wird?
Es ist erstaunlich wie wenig im Ausüben derartiger Meditationspraktiken das Ich in den Fokus der Betrachtung rückt. Mitunter wird in andeutenden Beschreibungen des Geschehens um derartige Meditationsweisen von der Überwindung des Ich gesprochen, ohne dass dieses selbst, wenn auch nur versuchsweise, einer näheren Betrachtung unterzogen wird.
Mit dem Ausräumen der inneren Stube von bestürmenden Gedankenwelten, im Einstieg in eine tiefere Meditationsebene, scheint unversehens auch das Ich mit ausgeräumt zu werden. Jedenfalls wird rückblickend  auf in diesem Zusammenhang gemachte  Meditationserlebnisse nicht mehr vom Ich gesprochen, sondern von Erlebnissen kosmischen erfüllt Seins mit Blick auf visionäre Willensperspektiven. Interessanterweise wird der Blick auch ausschliesslich auf die Zielrichtungen des Willens gerichtet und nicht auf ihn selbst.
Was es mit dem Willen auf sich hat wird nicht geklärt auch eine mögliche Verbindung von Ich und Wille scheint nicht am inneren Horizont des Fragens auf zu tauchen.

Eine anders geartete  K r ä f t e d y n a m i k ! Und - die Frage nach dem Willen rückt erneut vor das innere Auge.
Der Wille ist für mich, wie mir nach über viele Jahre hinweg anhaltendem Betrachten der Frage  vor Augen tritt, nicht in einem „über mich hinaus,“ sondern auf dem Weg mehr in mich hinein zu finden. Mehr in mich hinein, durch die Dunkelheit des Leiberlebens zu einer Zurückdrängung des Leibes vorzudringen, was nicht heisst den Leib abzustreifen. Der Leib ist nämlich der Schmiedemeister, der mir im Feuer der Begierden meine Sinne schärft.
Die Begierden nicht als lästige Fliegen zu betrachten, die auf dem Weg möglicher übersinnlicher Erfahrung zu überwinden sind, sondern sie als Lehrmeister für das Schärfen meiner Sinne anzuerkennen, das macht den Weg frei im Ergreifen und ichhaften Durchdringen dieser erweiterten Kräftedynamik nicht den Boden unter den Füssen zu verlieren.
An der Pforte zur Dunkelheit des Leiberlebens gilt es, wie mir scheint, eine grundlegende Erfahrung zu meistern, die durch immer wiederkehrende, hartnäckige Nebel der Müdigkeit, die über mich herfallen, sich anzeigt. Auch das immer wieder sich ereignende, meist schnelle Aufgeben oder nicht konsequent Fortfahren im Üben auf dem Weg zum geistigen Erfahren,  ist eine Wirkung solcher innerer Nebelbildungen. Und letztlich ist es das Ego, in dessen Armen ich immer wieder lande.
Mit den Nebelbildungen sind, bei näherem Hinsehen aber immer mehr oder weniger bewusste Begierden oder Ängste verbunden. Sie ruhig und wertfrei anzuschauen erfordert einigen Mut. Mit anderen Worten, sich anhaltend lächelnd über die eigene Schulter wie ein Fremder zu schauen ist hier angezeigt - immer wieder - bis sich derartige Gedanken- und Empfindungskomplexe still aufzulösen beginnen. Das Bedrängende geht, wenn Du es nicht mehr fürchtest, es mit allerlei selbst erzeugten Verschleierungen zudeckst und damit die Augen vor ihm verschliesst.
Zurückdrängung des Leibes! Auf den ersten Blick könnte der Eindruck entstehen, dass damit von einer Verdrängung des Leiblichen gesprochen wird, um an die eigentliche geistige Dimension herantreten zu können. Gemeint ist aber „durch den Leib hindurch“ und nicht am Leib vorbei zum Geiste vor zu dringen. Gemeint ist den eigenen Willen nach und nach so weit zu verdichten, ihn in innerer Präsenz, in seiner Prozessdynamik gegenwärtig zu halten, dass der Tanz der Begierden, wie er sich aus leiblichen Prozessen heraus im Seelenleben zum Ausdruck bringen kann, dass ich im Anschauen dieses Geschehens die Oberhand behalten kann. Darin liegt das eigentliche Thema von innerer Gelassenheit und Urteilsfreiheit.
Die Freiheit kann der Mensch sich nur selber nehmen, indem er sich durch Selbstverurteilungen in seinem Kräftewirken knebelt. Freiheit kann mir auch kein Mensch nehmen, ausser ich lasse es aus einer inneren Schwäche heraus zu. Insofern sind die Härten, die andere Menschen mit ihrem scheinbar unangemessenen Verhalten und ihren Übergriffen mir zumuten können meine Herausforderer im Ich zu erwachen.
Freiheit kann demgemäss auch nicht das Ziel einer fernen Zukunft sein. Sie ist und wird jetzt, in diesem Augenblick und das immer wieder neu und in einer sich vertiefenden Art und Weise, oder sie manifestiert sich nie. Von Freiheit zu träumen, sie in die Zukunft hinein zu verschieben ohne aktiv gestaltend etwas für sie zu tun ist in sich widersinnig. Freiheit ist die Aufgabe des Ich. Niemand wird sie mir geben , wenn ich sie mir nicht erwerbe, auf allen Ebenen des Seins.

Der Widersinn einer irgendwie gearteten Grenze fällt dort in sich zusammen, wo das Ich in seiner Unmittelbarkeit ins Leben eintritt, wo das Ego mit seinen selbstbezognen, Angst durchwirkten Seelenverstrebungen in dieser seiner Aktivität entlarvt wird. Und diese Aktivität kann unmerklich bis in ein Geistiges hinauf wirken.
Visionen kommen nicht wirklich aus dem Geistigen, sie sind Spiegelungen leiblicher Prozesse in einen scheinbar geistigen Raum hinein und werden demgemäss als Widerspiegelungen erfahren. Charakteristisch für sie ist, dass sie den Willen anzünden, ihn aber nicht freilassen.
Das Ego spiegelt tief unterbewusste eigene Wünsche und Sehnsüchte an die Wände seiner gleichsam „inneren Dunkelkammer,“ die in ihrer Schwärze als Nichts oder Leere erlebt wird und empfängt in einer Art Lichtreflex Visionen. Durch eine narzisstische Persönlichkeit übermittelt, können diese eine euphoriesierende Wirkung aussenden, die für den Moment begeistert, im Ansatz auch Transformation anstossen kann, aber letztendlich nicht nachhaltig wirkt, weil das Ich nicht angesprochen wird. Es werden latente Abhängigkeiten geschaffen und die Freiheit, die nur aus dem Ich heraus Leben gestaltende Wirklichkeit werden kann, bleibt aussen vor.
Die Unmittelbarkeit des Ich zu leben ist allerdings mehr als herausfordernd. Schon das  von Innen her sich Annähern an die Kräftewirkungen, die durch das Ich freigesetzt werden, erfordert Mut. Das ist kein schwereloser und auch kein abstrakter Zustand, wie mitunter angenommen, in dem der Erfahrende sich in Einheit mit einem Alleins erlebt. Es ist ein Zustand wachsender Kernung und zunehmend innerer Einsamkeit unter einem Gewicht von Verantwortung, die getragen sein will.
Die Wirklichkeit des Ich zieht die Erfahrung einer Form von Selbstkonfrontation nach sich, um die Du Dich nicht mehr herumschleichen kannst. Was es heisst sich „unbestechlich“ selber in die Augen zu schauen, das wird zum Erlebnis in den fortlaufend gegenwärtigen Möglichkeiten und tatsächlichen Ereignissen eines Absturzes, innerhalb permanenter Gleichgewichtsbemühungen im Gehen über steil abfallende Bergkämme. Und wenn ich dies sage, dann ist dies weit weniger ein Bildverweis, als wachsende unmittelbare Tatsächlichkeit im eigenen inneren seelischen Beobachten und Erleben.
Dabei geht es um das Wirksamwerden des Ich in meinem und Deinem Alltag und nicht um ein Verschieben an einen fernen sogenannten Entwicklungshorizont. Das Ich verbindet sich „jetzt“ oder nie mit Deiner Lebenswirklichkeit. Und hier gibt es nur eine scheinbare Grenze. Du vermeidest das tatsächlich tiefere Hineingehen in Deinen Willen und damit das Straffen Deiner Leiblichkeit. Der Weg, sich hier, nach Art des Mondlichtes gespiegelt, in ein Alleins hinein zu träumen scheint der leichtere Weg zu sein. Er suggeriert Dir das Erleben eines schnelleren Ankommen. Der Weg des Ich aber ist ein innerer Sonnenweg.

Bernhard Albrecht