Donnerstag, 20. Januar 2022

Mit den Augen des Falken ... (2)

Der nachfolgend mir per Mail übersandte Kommentar zu meinen Blogeintrag: Mit den Augen des Falken … (1) veranlasst mich diesem Beitrag einen zweiten Teil folgen zu lassen.

„Ein Falke ist von Natur aus sehr scheu. Wenn er von einem Falkner zu einem Jagdfalken ausgebildet werden soll, wird er ganz jung zu diesem kommen. Die ersten Schritte zum Zusammenfinden von Falke und Falkner erfolgen in einem abgedunkelten Raum. Der Falkner muss versuchen, sich durch ganz langsame Bewegungen „unsichtbar“ zu machen, um Flucht und Stress beim Vogel zu verhindern. Dann wird versucht, das Vertrauen des Greifs mit Leckereien aufzubauen. Dies dauert mehrere Tage. Um ihn anschließend dazu zu bewegen auf den Lederhandschuh des Falkners überzutreten, bedarf es vieler Lockversuche mit Futterbelohnung. Hat er sich an den Übertritt auf den Handschuh gewöhnt, kann man nach draußen gehen. Hier wird der Vogel wieder mit Leckerbissen darauf trainiert, auf immer größere Distanzen auf den Handschuh des Falkners zu kommen – dabei bleibt er aber zunächst mit einer feinen Schnur angebunden. Ist das Vertrauen groß genug, kann eines Tages die Schnur entfernt werden – der Falke kehrt gemäß Futterbelohnung immer auf den Handschuh des Falkners zurück. Ist diese Verbindung gelungen, kann im nächsten Schritt der natürliche Jagdinstinkt des Falken eingesetzt werden. Er lernt, dass er im Verbund mit dem Falkner erfolgreicher jagen kann, da dieser die passende Beute aufzuschrecken vermag. Um dem Falken seine Beute abzunehmen, muss der Falkner ihm als Ersatz wieder eine Futterbelohnung anbieten – teilweise wird er für eine langfristige Motivation auch gestatten, seine Beute selbst zu fressen. 

Es ist deutlich, wie schwer es unter normalen Umständen ist, das Vertrauen eines Falken zu gewinnen. Auch langfristige Beziehungen halten nicht für immer, manchmal verschwindet auch ein gut ausgebildeter Vogel noch von seinem Falkner. Niemals kommt ein Falke freiwillig, immer muss der Falkner den Vogel mit Futterbelohnung anziehen und sein Vertrauen gewinnen. 

Ich wähle absichtlich ein „technische“ Darstellung der äußeren Vorgänge bei der Ausbildung eines Falken, als größtmöglichen Kontrast zu Ihrer Darstellung. Damit soll – und das wird es vielleicht auch - deutlich werden, wie besonders der Vorgang ist, wenn der Falke von sich aus den Platz auf der Schulter der Touristin einnimmt. Dies spricht für ein erhebliches unsichtbares Band zwischen beiden – eine enorme seelisch-geistige Resonanz. Tiere bewegen sich ganz allgemein immer nur aufgrund eines Gefühls, das auf Sinneswahrnehmung beruht (z.B. Futter, Schrecken) oder aufgrund eines seelisch-geistigen Bandes. Das seelisch-geistige Band muss die Intensität einer Sinneswahrnehmung aufweisen. Mir sind keine weiteren Fälle bekannt, bei denen ein Falke sich auf die Schulter eines/r völlig Fremden gesetzt hätte.“

Ich bin sehr dankbar für diese sehr kontrastreiche Kommentierung meines Beitrages, weil mir gerade diese Herangehensweise ermöglicht einige tiefere Aspekte des Verhaltens des Falken mit den seelisch-geistigen Verhaltensweisen des Menschen, insbesondere daselbst des Umgangs mit dem Denken in einer Art erster Zusammenschau korrespondierend einander anzunähern. Wie das? Der Falke und das Denken?

Schauen wir uns die Ausführungen dieses Kommentars etwas genauer an. „Die ersten Schritte zum Zusammenfinden von Falke und Falkner erfolgen in einem abgedunkelten Raum. Der Falkner muss versuchen, sich durch ganz langsame Bewegungen „unsichtbar“ zu machen, um Flucht und Stress beim Vogel zu verhindern.“ Was bedeutet das für das entsprechende Erfassen  des Denken? Unterziehe ich dieses einer näheren Untersuchung innerhalb meines seelischen Beobachten so muss ich immer deutlicher erfahren, dass dies gar nicht so leicht ist wie es auf ein Erstes hin scheinbar zu sein erscheint. Von Mal zu Mal wird in meinem Bemühen nämlich sichtbar, dass das Denken so nebenbei nicht zu erfahren, dass heisst in einem Verhältnis Auge in Auge im Innenverhältnis meines seelischen Erfahren zur Anschauung zu bringen ist. Gerade weil Denken von einer mittelmässigen Bildung an aufwärts für allgemein verfügbar gehalten wird weist die genauere Untersuchung schrittweise immer grössere Probleme für das tatsächliche Erfahren desselben aus. Um es bildhaft auszudrücken, das Denken scheint innerhalb der seelischen Erfahrungswelt des Menschen so etwas wie ein Fluchtvogel zu sein.

Ein Fluchtvogel? Die intellektuelle Grundfähigkeit denken zu können, welche heute gleichsam wie selbstverständlich als unverbrüchliches Bildungsgut angesehen wird, von daher also auf der Habenseite geistesgeschichtlicher Entwicklung zu verorten ist sei etwas so Flüchtiges, dass es möglicherweise nicht so ohne Weiteres als allgemein gültiges Bildungsgut verstanden werden könne und dürfe. Hm, ist die Annahme einer derartigen Einlassung nicht mehr als starker Tobak auf die Mühlen gängigen Philosophie Verständnisses? Ist in dieser Richtung zu denken von allem Anfang her also absurd. Der Philosoph Thomas Nagel(1) äussert sich jedoch gerade gegenüber einer sich zeigenden Absurdität im Umgang mit dem Denken nüchtern so: "Philosophie (und Wissenschaft?) darf keinesfalls zu ermässigten Ansprüchen ihre Zuflucht nehmen." Sie fusst auf der steten Weiterentwicklung "ihrer eigenen unterentwickelten Fähigkeiten" und was not tut, so ich in der unweigerlichen Kollision einander widerstreitender Perspektiven auf das "Absurde" stosse, "ist der Wille, es mit ihm aufzunehmen.“

Schauen wir uns also diese Absurdität an. Was im Zusammenhang mit dem Hinschauen auf das Denken zunächst auffällt ist, dass mehr oder weniger geordnete Gedankengänge sich in unserem sogenannten Bewusstseinsraum beständig ineinander und umeinander herum bewegen. Gedanken sind gleichsam unsere unablässigen Begleiter durch und über den Tag hinweg. Doch denken wir deshalb schon, wenn wir derartige Vorgänge in uns konstatieren? Oder gilt hier eher die Aussage: „Denke nie gedacht zu haben, denn das Denken der Gedanken ist gedankenloses Denken. Wenn Du denkst Du denkst, denkst Du nur Du denkst?“(2) Wenn dem aber so sein sollte, dass Gedanken haben bedeutet, dass ich innerhalb eines derartigen Verhaltens möglicherweise nicht wirklich denke, was hiesse dann „wirklich“ zu denken? Gehe ich diesbezüglich zunächst einmal von der Bedeutung des Wortes wirklich aus, dann werde ich auf ein Wirken, ein zu Erwirkendes, ein Verwirklichen verwiesen. Im eigentlichen Sinne also auf eine Tätigkeit aufmerksam gemacht, die (ich ?) im Denken zu vollziehen hätte. Dies berücksichtigend würde dann unabdingbar zur Folge haben, dass ich nur insoweit von Denken sprechen kann, wie ich mir ein zumindest anfängliches Bewusstsein von den Bewegungen erarbeitete, die innerhalb des Denken vonstatten gehen, sobald ich hier selbststeuernd unterwegs bin.

Selbststeuernd: Ein grosses Wort und (Hand aufs Herz) ein noch grösseres Vorhaben, das seiner Verwirklichung nach wie vor harrt. Eine Verwirklichung angesichts deren ungeheuerlich ambitionierter Herausforderung sogar ein so grosser der philosophischen Geistesgeschichte wie Emanuel Kant innerlich wie erschauert zu sein scheint, wenn er einerseits sagt, dass seine Philosophie die eigentlich erste(3) unter allen voraus gehenden philosophischen Bemühungen sei - womit ihm recht zu geben ist - auf der anderen Seite er hinter seiner eigenen Aussage wie zurückzuschrecken sich darstellt, wenn ich die Aussagen von ihm bezüglich des sogenannten Ding an sich meditativ bis auf ihren Grund hin zu untersuchen mich anschicke. Denn, lauschen sie liebe Leser einmal letzterer Aussage wirklich nachhaltig nach, liegt darin nicht unser aller schlafender Wille, den es allseitig seither zu entfalten gilt wie in einem Embryo Zustand zurückgehalten geborgen?

Der Falke ein Fluchttier. Das Denken so etwas wie ein Fluchtvogel, der sich beständig dem Zugriff entzieht. Das Denken und der Wille es hervorzubringen. Der Wille und das Problem des Zugriffs auf ihn in der Erfahrung. Ist intuitives Erfahren in einem transparent zu beschreibenden eigenen Vorgehen für das Erfahren anderer Menschen nachvollziehbar zu machen? Was könnte der Ausgangspunkt für ein derartiges Vorhaben sein? Ein Unterfangen, das auf je eigenen inneren Wegen das Fürchten zu lernen mit wachsendem inneren Mut dazu führt im Angesicht individueller Geschehnisse furchtlos zu werden. Der Dreh- und Angelpunkt für diesen Weg? Das tatsächliche Eingeständnis im Sinne des Sokrates, dass „ich weis,“ dass ich nicht weis, auf das ich in meinen vorangehenden Blog Essays  unter verschiedenen Aspekten immer wieder einmal hingewiesen habe. Wenn sie also das Wagnis eingehen wollen eine tatsächliche Erfahrung machen zu wollen was es heisst ich weis, dass ich nicht weis, dann lassen sie sich vielleicht auf folgende praktische Übung ein. Gehen sie über eine längere Zeit eine Treppe regelmässig bedachtsam Schritt für Schritt nach oben und darauf achtsam auf jede einzelne Phase ihres Tuns achtend wieder langsam nach unten. Wenn sie das wirklich tun, dann werden sie zu einem ihnen gemässen Zeitpunkt von dem Schauer der Bodenlosigkeit berührt werden. Sie werden in diesem Augenblick die Erfahrung machen, dass sie bis dahin noch nie eine Treppe „wirklich“ hinauf und hinunter gegangen sind. Dass sie dies vielmehr taten gehalten von einer Vielfalt unterschiedlicher Vorstellungsleitplanken. Benützen sie deshalb zu ihrer eigenen Sicherheit ein Treppengeländer, um im Erfahren des Schauers von Bodenlosigkeit sich in dieser dennoch halten und dynamisch weiter bewegen zu können. 

Was vermittelt das tatsächliche Erfahren der Bodenlosigkeit? Es vermittelt ihnen ihr ganz und gar einzigartiges Erleben ihrer individuellen Freiheitsfähigkeit. Und noch etwas. Es stellt sie mit dieser Erfahrung abrupt auch unmittelbar hinein in die nur ihnen zu eigen sich gebende Verantwortlichkeit ihres Lebens. Denn ohne eine wie auch immer geartete Erfahrung der Bodenlosigkeit im Laufe des eigenen Lebens ist die lebensgemässe Verankerung einer ersten Philosophie im Sinne von Kant, bzw. die zeitgemässe Fortsetzung der Geisteswissenschaft im Sinne Rudolf Steiners nicht möglich. ✲

© Bernhard Albrecht Hartmann 20.01.2022


(1) Thomas Nagel, "Der Blick von Nirgendwo," Suhrkamp TB 2012, Seite 22 - 24

      https://ich-quelle.blogspot.com/2016/07/einige-anmerkungen-zu-thomas-nagel-der.html

(2) https://www.aphorismen.de  Quelle unbekannt

(3) Siehe Eckhart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie, die rote Reihe Band 51  

     Vittorio Klostermann Verlag Frankfurt am Main 2. Auflage 2012

✲  Fortsetzung: https://ich-quelle.blogspot.com/2022/01/mit-den-augen-des-falken-3.html