Samstag, 14. November 2015

Entfesselung

Was gestern Abend und in der Nacht in Paris geschah scheint auf den ersten Blick ein bestürzendes Geschehen zu sein, das sich an einem von unserem Lebensbereich mehr oder weniger weit abgelegenen Ort ereignete. Ist das wirklich so?
Indem wir in diesen Stunden nach Paris blicken und unserer Mitgefühl mit den unmittelbar betroffenen Menschen teilen, wie zum Beispiel mit jenem jungen Mann, der gerade einmal zwei Monate verheiratet mich innerlich zutiefst aufgewühlt heute Morgen anrief, weil er seine Frau suchte, die berufsbedingt an diesem Wochenende in Paris weilt und der mitten in unserem Telefongespräch beinahe noch mehr innerlich zusammen knickte, vor Erleichterung und Freude, als er eine SMS erhielt, indem sie ihm mitteilte, dass es ihr gut gehe - reicht an diese inneren dramatischen Erlebnisweisen unser Erleben und Mitempfinden wirklich heran?  Oder werden wir letztlich doch von den sich überstürzenden Meldungen der Nachrichtenpresse mitgerissen, in Hilflosigkeit erstarrend in unsere Fernsehsessel gedrückt und „wie gebannt“ festgehalten?
Von der Politik hören wir, es sei alles zu überprüfen, unsere Sicherheitslage müsse angesichts der Ereignisse von Grund auf durchforstet werden, um sich mit den entdeckten Konsequenzen noch besser aufstellen zu können. Wer mag da schon nein sagen.
Doch ist es damit getan das Netz von Sicherheitsvorkehrungen im Aussen zu verstärken? Zielt dieser Terrorangriff über das Aussen nicht viel tiefer mitten in unserer aller Bewusstseinsräume hinein? Was heisst es von dort her sich neu aufzustellen, sich „mehr zentriert“ auszurichten auf das, was in mir geschieht und daraus zu handeln?
Habe ich, haben wir diese entfesselnden Kräfte nicht schon mehr oder weniger leise viele Male vor unserem inneren Auge wie vorbei huschend auf dem Bewusstseinsschirm gehabt? Was haben wir dann getan im Umgang mit derartigen Kräften in uns? Ich will nicht wiederholen, was ich alleine heute im Zuge der Ereignisse von Paris an Wut, Zorn und selbst überhebenden Massnahmen Empfehlungen schon zu hören bekam. Und von daher frage ich mich, kann es angehen mich in meiner Verantwortung für das, was in Paris, im nahen Osten oder sonst wo in Menschen verachtender Weise geschieht, mich wie auszuklinken, am Rande zuschauend stehen zu bleiben oder gilt es die „Drachenkräfte“ in mir deutlicher ins Auge zu nehmen?
Es gibt viele Arten von feurigem Zunder, der in mir knisternd leise vor sich hin schwelt, Zunder den ich von Anderen kommend weiter reiche, Zunder den ich entflamme und gezielt in sozialen Netzwerken platziere, ohne mich um seine Wirkung dort weiter zu kümmern oder gar an meine Verantwortung auch nur zu denken, wenn ich derartige Gedankenbildungen von mir gebe.
Der Drache ist für den, der bereit ist sich tiefer in dieser Welt „gegenwärtig“ zu verankern kein blosses Bild. Es ist eine beobachtend klar zu identifizierende Kraft in mir, die es gilt anschauend zu bändigen. Mit einer derartigen inneren Haltung vollzieht sich in meinen Augen zeitgerechte Verantwortung.

Bernhard Albrecht Hartmann