Montag, 15. Oktober 2018

Die wechselseitige Bedeutung des Ego und des Ich füreinander

 „Lieber Bernhard Albrecht, ich bin mir nicht sicher, ob die alten Unterscheidungen von Ego und Ich noch aktuell sind. Seit einiger Zeit erlebe ich da eine bestimmte Veränderung. Da wo das alte Ego noch lebensbestimmend ist, ist es inzwischen abgestiegen in eine solche Verhärtung, dass es im Seelischen für eine massive ‚Raserei‘ oder griechisch ‚mania‘ sorgt. Es ist quasi kein Ego mehr, dass als eine Übergangssituation im 19. und 20. Jahrhundert menschenkundlich vielleicht notwendig war, sondern ein Unter-Ego. Der Übergang solcher verhärteter und nicht individualisierter Denkprozesse in die eigene Organisation zeigt sich dort eben als unsensible Gefühlsprozesse. Insbesondere der eigene Atemprozess ist angewiesen auf Ich-Prozesse im Denken, weil er sonst ähnlich wie äußere meteorologische Phänomene nicht fein genug ist um eine Beseelung des Luftprozesses zu bewirken. Vieles, was heute politisch inhaltlich diskutiert wird, ist mehr ein menschenkundlich pathologisches Problem. Interessanterweise erlebe ich das meist ganz anders dort, wo Menschen es mit psychischen Problemen real zu tun haben. Dort wo, sie bewusst schon mit ihrer Erkrankung ringen, ist die Ichaktivität viel präsenter und das alte Ego zeigt sich als diese Erkrankung, also als ein festgehaltener Seelenprozess (im Hegelschen Sinne). Meiner Meinung nach hat sich diese Entwicklung seit den neunziger Jahren deutlicher gezeigt. Vielleicht brauchen wir neue Begriffe um dieser Wirklichkeit gerecht zu werden? Roland“ https://rolandwiese.com/2018/08/27/das-wirkliche-ich/#comments

Lieber Roland. Ich kann Deine Gedanken nachvollziehen. Da das Ego in meinen Augen aber schon mindestens seit der Römerzeit unter den Menschen eine immer stärker wirksame Kraft ist, steht für mich an Begriff und Erlebnisweise des Ego für unsere Zeit zu schärfen und in seinem Wirken innerhalb gegenwärtiger Entwicklungen als herausfordernde Kraft zu verstehen.
Du weist mit der „Raserei“ in Deinen Worten zwar auf ein bedeutsames Zeitphänomen hin, wenn Du in diesem Zusammenhang jedoch von absteigen in die Verhärtung sprichst, dann fehlt mir der Gegenbegriff zu absteigen. Absteigen und Aufsteigen stehen nämlich aus meiner Sicht heute in einem entscheidenden Wechselverhältnis. Vielleicht können wir allenthalben z.B. in diversen Internet-Foren soviel „astral“ Raserei bemerken, weil dem auf der anderen Seite ein zu wenig an entschiedenem Hineingehen in die Kraft eigener Selbstermächtigung gegenüber steht. Das wirksame Ich agiert zu zaghaft und zu wenig auf Augenhöhe hin.
Wir lassen uns auf eine sehr hintergründige Weise von derartigen Phänomenen mehr als uns vielleicht bewusst sein mag astral infiltrieren und weil wir es oft zu spät bemerken, können wir im Sinne des Heilpädagogischen Kurses und einer Empfehlung von Rudolf Steiner dort nicht „aus dem nächst höheren Wesensglied“ auf entsprechende Situationen antworten.
Die Raserei wird zwar aussen gesehen, aber zu wenig bei sich in z.B. diversen Unruhestürmen bemerkt und angenommen. Eine jede Raserei im Aussen hat ihre Entsprechung, wenn möglicherweise auch nur in einer abgeschwächten Form in der eigenen Seele. Gleiches erkennt sich durch Gleiches. Diese Raserei will also in seelischen Beobachtungen erkundet sein, wenn die Fähigkeit aus der eigenen Seele heraus erwachsen soll derartigen Rasereien im Aussen wirksam begegnen zu können.
Du und ich können von daher nur entschiedener an unseren vielleicht allzu gerne verschleierten Ego-Ausdrucksweisen arbeiten, dürfen diese nicht klein reden, wenn uns die Entwicklung unseres wirksamen Ich ein echtes Anliegen sein will. Das Ego ist die  G e b ä r m u t t e r  des Ich.
Von daher gesehen hat das Ego eine höchst bedeutsame Funktion. Es als Unter-Ego einzustufen sehe ich deshalb als problematisch an. Ich denke vielmehr, dass innerhalb eigenen spirituellen Bemühens höchste Achtsamkeit geboten ist derartige verdeckte Rasereien im eigenen seelischen Verhalten nicht zu übersehen und unversehens auf Klienten zu übertragen. Aus entsprechenden Erfahrungen in der Praxis weiss ich, dass dies nicht selten eine Ursache dafür ist, wenn sozialtherapeutische Prozesse stagnieren.
Die „tatsächliche“ und nicht nur vorgestellte Augenhöhe zu einem Klienten einzunehmen und auch durchzuhalten ist kein leicht Ding. Sich durchgehend „bewegt in Bewegung“ haltend und immer umfänglicher den Regungen eines Klienten innerlich vorstellungsfrei zu folgen ist eine grosse Kraftherausforderung an tiefer und tiefer sich individualisierend fliessender Konzentration, wie einem Willen zur Zurückdrängung des Leibes im gleichen Atemzug. 
Die mit diesen Worten skizzierte Anstrengung ist gleichzeitig ein Verweis auf die dynamische Aufstiegsbewegung, korrespondierend zu dem von Dir charakterisierten Abstieg in eine Unter-Ego Ebene. Was aber ist nun genauer zurückzudrängen. Es ist die von vielen Selbstsichten geprägte eigene Wirklichkeit, die ich bis dato, also bis zur Begegnung mit „diesem bestimmten Klienten“ mir aus diversen Erfahrungen „leibhaft“ eingeprägt habe, mit dem ich es eben jetzt in Folge meines professionellen Auftrages zu tun habe. Und eben just an dieser Schwelle vollzieht sich etwas oder wird übersehen, was in meinen Augen für den Beginn wie den Fortgang eines therapeutischen Prozesses von grosser Bedeutung ist. Leeres, höchst virulentes Bewusstsein zwischen mir und dem Klienten will hergestellt sein oder es öffnen sich von allem Anfang an Tür und Tor für die mannigfaltigsten Illusionen, die sich an vermeintliche Phänomene des therapeutischen Verlaufs unscheinbar wie Kletten anheften. Vergangenheitsbezogene Vorstellungen entern unscheinbar den therapeutischen Gesprächsraum.
Die fachliche Professionalität ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite bildet die spirituelle Professionalität. Wo ich innerlich nicht uneingeschränkt annehmen kann, dass ein z.B. sehr labiler und psychisch stark angeschlagener Klient der in diesem Augenblick mir gegenüber stehende Meister für den Fortgang meiner eigenen spirituellen Schulung ist, stehe ich nicht am Scheitelpunkt zeitgemässer Wirklichkeitsbildung. Ich stehe nicht am Scheitelpunkt, weil ich die vielleicht grössere seelische Verhärtung bei mir nicht bemerken will und kann.
Seelische Beobachtung und sokratisches Fragen sind in meinen Augen die in sich dynamischen Elemente, die hier geübt sein wollen. Seelische Beobachtung fusst auf der Bereitschaft zu ernsthafter Selbstkritik, ohne wenn und aber und die Fragemethode des Sokrates, sie kann einen Raum bilden helfen, in dem atmende Ichprozesse an einer erweiterten Wirklichkeit selbstbildend bauen können. Ohne den immer wieder neuen Durchgang durch die Erfahrung des „ich weiss, dass ich nicht weiss,“ jene atmende Leere, die ich oben schon ansprach — keine an die Wurzel reichende Heilung im Ich-Du Raum.
Ich weiss, das hört sich sehr streng an, aber ich sehe das so und will mir vor dem Hintergrund langer Wege hier nichts mehr vorgaukeln. Das Ich Erwachen birgt eine eigene Strenge in sich, die anzunehmen niemand einem anderen Menschen ansinnen kann. Ich Erwachen ist an keine Bedingung gebunden, sondern eine Entscheidung aus der angenommenen Selbstkonfrontation mit dem Du, also auch mit dem Klienten. Es kann einzig und allein aus der Konklusion eigenen Erfahrens selbstverantwortlich nur sich selber zugesprochen und auf dem Weg gehalten werden.
Der Klient oder auch der einfache Bürger in einem Supermarkt als Meister für die weiter voran zu treibende eigene Entwicklung! Das Du im Hashtag Modus auf Internet Foren und vieles mehr kann zur Frage an Dich werden. Wieweit willst Du dem Abstieg in die tiefsten Höhlen der Egomanie zusehen ohne an im Angesicht dessen zu konstatierenden Phänomenen Dir selber die Aufforderung zuzusprechen Deinen Aufstieg in eine verstärkte Ich-Ausdrucksdimension entschiedener voranzubringen? Dieses wird von einem bestimmten Augenblick an zu leise wiederkehrenden Frage an dich. Zur Frage auch aus der Höhle des Platon nach oben zu steigen, in der Du Dich Deinerseits unscheinbar gefangen sehen kannst, wenn Du die Phänomene derer Du ansichtig wirst in ihren Korrespondenzen näher selbsterkennend untersuchst.
Aristoteles mischte sich zu seiner Zeit in Abgrenzung zu den Gelehrten aus Eleusis unter das gemeine Volk auf den Marktplätzen von Athen. Wie weit seine Forschungen zum Aktus gerade dort ihren Entwicklungsnährboden fanden wäre hochinteressant näher zu erkunden. Ich halte es für möglich, dass seine Metaphysik in der Zukunft noch ganz anders gelesen werden kann als bis anhin.
Bernhard Albrecht