Donnerstag, 22. Oktober 2020

Die noch offene Frage Karl Ballmers Teil 1

Die noch offene Frage … drückt sich in der Sprache von Karl Ballmer eher wie das Poltern einer herannahenden Sturmfront aus, wenn er davon spricht, dass „das historische Auftreten des wirklichen Ich für die „Wissenschaft“ die Notwendigkeit (bedeute) das System der Begriffe zu verwandeln in ein System der Iche.“(1) Hierin ist er ganz der Zen-Meister, der seine Schüler herausfordert sich in diesem Zusammenhang endlich die notwendigen tiefer reichenden Fragen zu stellen. Für Ballmer ist das was er sagt eine Notwendigkeit (er setzt das Wort Wissenschaft sogar in Anführungszeichen), deshalb sein so vehementes Anschieben dieser Frage. 

Für die Wissenschaft schien diese Frage dazumal anscheinend aber nicht wirklich virulent zu sein. Manche Fragen schlummern eben im Gang der Geschichte so lange im Hintergrund vor sich hin bis die Zeit dafür reif ist sich ihnen stellen zu können. Das was Ballmer hier anspricht ist nämlich schon einigermassen herausfordernd und konnte demgemäss durchaus Anlass geben sich fragend auf diesen Ast lieber nicht hinaus zu begeben. Die Gefahr bei einem derartigen Unterfangen sogleich rüde abgesägt zu werden war durchaus gegeben. Und … ganz nüchtern betrachtet … ist diese Gefahr auch heute nicht von der Hand zu weisen, denn nichts wurde und wird von je her mit härteren Bandagen verteidigt als zu Paradigmen ausgewachsene Vorstellungskonvolute. Und die gängige Vorstellung von Wirklichkeit auch nur leise in Frage zu stellen, das rüttelt am Existenzverständnis eines jeden Menschen.

Wie sehr dieses Wirklichkeitsverständnis erschüttert werden kann, das zeigt aktuell die Corona-Krise. Es kann nicht so weitergehen wie bisher, das wird von Tag zu Tag deutlicher. „Du musst Dein leben ändern“ klopft, wenn auch von nicht Wenigen gegenwärtig nur widerwillig zur Kenntnis genommen, in nicht mehr so einfach wegzuweisender Art und Weise an die Tür. Die Wirklichkeit fordert einen aktiveren Umgang mit ihr heraus. Was morgen geschieht, das wird durch mein, durch unser aller Tun … heute mit erwirkt.

Sehr direkt gesagt ist also Wirklichkeit, wie dieses aktuelle Beispiel zeigt mit einem Male nicht mehr per se ein fester Bestand unseres Lebens? Weil, wie schon das in dem Wort Wirklichkeit verborgene Wort „wirken“ auf einen tätigen Prozess des Erwirken deutet, Wirklichkeit demnach das Ergebnis eines Hervorbringen und nicht eine Gegebenheit schlechthin ist?

Wird etwa durch die Corona Pandemie der näher rückende Horizont dessen sichtbar, was Karl Ballmer das historische Auftreten des wirklichen Ich nennt? Wird mit diesem Ereignis die treibende Kraft zukünftiger Wirklichkeitsbildungen durch dieses Ich als „die“ entscheidende Herausforderung nunmehr deutlicher sichtbar? Tritt damit das Ich, das die wirklichkeitsbildende Kraft in sich entdeckt vor aller Augen?

Untersuchen wir den anscheinend zu Grunde liegenden Sachverhalt noch etwas genauer. In der Verständnisbildung dessen was Wirklichkeit in Tat und Wahrheit ist geht es um die Wirklichkeit bildende Kraft im Denken. Diese sich zur inneren Anschauung zu bringen ist der tiefere Kern dessen, was Rudolf Steiner in der Aussage zusammenfasst, die er seinem philosophischen Grundlagenwerk: „Die Philosophie der Freiheit“ als innere Arbeitsanweisung im Untertitel hinzufügt - „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode.“

Bis heute ist diese Arbeitsanweisung dem äusseren Anschein nach weder von Seiten der offiziellen Wissenschaft, noch von der Mehrheit anthroposophisch arbeitender Menschen ihrer tieferen Essenz nach verstanden worden. Eckhart Förster benennt das in seinem Vorwort zum SKA Band 2 so: „Ohne den bereitwilligen Versuch, ein solches sich selbst erzeugendes Denken im Sinne Steiners selbst auszubilden, wird sich über dessen Wirklichkeit nichts entscheiden lassen (1, 2).“

Das Besondere der Wirklichkeit des Denkens von Rudolf Steiner ist nämlich dies, dass er den Willen im Denken wieder zum Bewusstsein erweckte, der in der Wissenschaftsentwicklung seit Aristoteles verloren gegangen war. Mit der Folge, dass das Verstandesdenken für ein eher allgemeines Bewusstsein sich mehr und mehr in immer schwerer zugänglichen Abstraktionen verlieren und verschliessen, dass es bis in weite Teile des gesellschaftlichen Lebens zu einer mehr oder weniger grossen Spaltung zwischen Denken und Handeln kommen konnte.

Im Grunde ist in dem Untertitel zur Philosophie der Freiheit - Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode der Keim einer neuen Dialogkultur verankert, ist die Veranlagung zu einer inneren Unterscheidungskraft für das Denken, das eben durch Unterscheidungsbereitschaft ganz auf das eigene „Erkenne Dich Selbst“ seinen Willen in Bewusstheit hinein entwickelt, gegeben.

Die Tragik ist, dass eben diese inneren (seelisch beobachteten) dialogischen Prozesse wechselseitig mit Bewusstsein (nach naturwissenschaftlicher Methode) zu durchdringen innerhalb anthroposophischer Zusammenhänge dem Anschein nach zu wenig ausgebildet und von wissenschaftlicher Seite der neue Ansatz im Umgang mit dem Denken bis zu Eckhart Förster nicht wirklich erkannt wurde. Mit Thomas Nagel (4) gesprochen ist hierzu anzumerken. Da die Frage nach dem sich selbst erzeugenden Denken durch einen ausgewiesenen wissenschaftlichen Fachphilosophen nun einmal gestellt ist wird diese Fachdisziplin in angemessenem Zeitraum nicht umhin kommen sich mit diesem Problemzusammenhang näher zu beschäftigen. Denn: „Philosophie darf keinesfalls zu ermässigten Ansprüchen ihre Zuflucht nehmen (5.1).“ Sie fusst auf der steten Weiterentwicklung „ihrer eigenen unterentwickelten Fähigkeiten (5.2)“ und was not tut, so ich in der unweigerlichen Kollision einander widerstreitender Perspektiven auf das „Absurde“ stosse, „ist der Wille, es mit ihm aufzunehmen (5.3).“

Anthroposophisch arbeitende Menschen können sich hier die Frage stellen, so sie die Weltlage ohne Selbstüberhebung sich tiefer vor Augen rücken, haben wir etwa nicht ernsthaft genug gearbeitet. Bei der heute gesamtgesellschaftlich weiten Verbreitung verschiedener Meditationen ist nicht in jedem Fall die Gewähr damit verbunden, dass damit auch seelische Beobachtungen sozial wirksam werden. Denn nicht selten gehen damit egoistische Ambitionen einher, die seelische Beobachtungen auf das „Erkenne Dich selbst“ hin unterbinden.

© Bernhard Albrecht Hartmann 22.10.2020

(1)https://ich-quelle.blogspot.com/2018/09/die-frage-nach-dem-wirklichen-ich-eine.html
(2)https://ich-quelle.blogspot.com/2017/09/den-willen-dynamisieren_97.html
(3)Steiner Kritische Ausgabe  (SKA) 2, Frommann-Holzboog Verlag Stuttgart-Bad Cannstatt
    2016, daselbst Vorwort von Eckhart Förster S. XVI
(4)https://ich-quelle.blogspot.com/2016/07/einige-anmerkungen-zu-thomas-nagel-der.html
(5.1) S. 22, Abs. 27, Vorrede: Thomas Nagel, „Der Blick von Nirgendwo,“ Suhrkamp TB 2012
(5.2) S. 23, Abs. 28 dito
(5.3) S. 24, Abs. 29 dito