Samstag, 31. Januar 2015

Von der Herausforderung "Freies Geistesleben" zu leben

Weitere Anmerkungen zur Auseinandersetzung um die Steiner Kritische Ausgabe auf: www.egoistenblog.blogspot.de

Was suche ich, wenn ich bemüht bin mit einem anderen Menschen in ein Gespräch einzutreten, wenn ich mich an einer Diskussion beteilige? Was suche ich?
Diese Frage scheint auf ein Erstes hin widersinnig zu sein und sie ist es auch, denn das was "Ich" suche steht nicht unmittelbar in meinem Fokus, wenn ich in die Teilhabe an einem Gespräch eintrete. Im Vordergrund steht eine Anmerkung, die mir wichtig ist zu einem vorausgehenden Beitrag zu machen. Es geht also um Mitteilung meiner Weltsicht auf ein zuvor von einer anderen Person Angemerktes.
Mitteilung.
Wie schnell aber kann eine solche Mitteilung ganz leise eine Korrektur oder auch eine latent wirkende Behauptung mit enthalten, der Andere sei einem Irrtum verfallen oder seine Sicht auf den Sachzusammenhang sei einfach nur falsch. Steht es mir zu darüber zu befinden, auch nur leise, unausgesprochen ganz bei mir, ob die Sicht eines Anderen in einer Diskussion falsch ist, wenn mir gleichzeitig die lebensvolle Ausgestaltung eines "Freien Geisteslebens" wichtig ist?
Freies Geistesleben.
Muss ich mich im Sinne eines freien geistigen Austausches unter Menschen nicht eines jeglichen Urteils über andere Menschen enthalten? Denn, wirkt nicht das Unausgesprochene, das so nebenbei unbemerkt Beigepackte in einem Gespräch mit, trägt dazu bei über Gelingen oder Misslingen eines Gespräches? Und umgekehrt: Hat nicht auch die vorschnelle, auch die stille Abwehr eines nicht unmittelbar Beteiligten einer Mitteilung in einer Diskussion möglicherweise stärkere Folgewirkungen auf den weiteren Verlauf des Gespräches? Ob es ausufert oder verhärtet?
Abwehr.
Kann ich in mir eine Abwehr gegenüber einem in einem Gespräch Mitgeteilten ausmachen, in welchem Verhältnis stehe ich dann in mir zu einem wirkungsvoll in Erscheinung treten wollenden "Freien Geistesleben?"
Damit komme ich zurück auf die eingangs gestellte Frage, was suche ich, wenn ...? Suche ich vielleicht über meinen vordergründigen Drang zur Selbstmitteilung hinaus die Selbstbegegnung mit mir? Und wenn dem so sein sollte, was hat dann Abwehrverhalten gegenüber dem Sagen eines anderen Menschen mit meiner möglichen (Nicht)Bereitschaft zur Selbstbegegnung zu tun. Abwehr und (Nicht)Erwachen am anderen Menschen? Abwehr und selbstverzehrende Sehnsucht nach Freiheit? Abwehr und vielleicht sogar (unterschwellig missionarischer) Überzeugungsdrang anderen Menschen gegenüber, weil ich ja weiss, wie es richtig ist? Abwehr und Kopf schüttelndes Verhalten gegenüber, wie ich es vielleicht bezeichnen möchte, befremdlichem  sich Ausdrücken? Abwehr gegenüber dem Fremden im Anderen schlechthin?
Was ist also vorrangig zu löschen bevor in dieser Hinsicht ein ordnender Eingriff von aussen zu erwägen ist? Es sind meine vorschnellen Urteile über einen anderen, diesen bestimmten anderen Menschen. Alle Vorstellungen sind einer kritischen Sichtung zu unterziehen. Was bedeutet Selbstbegegnung auf einen Nullpunkt hin, innerhalb dessen ich mich fortschreitend immer weniger auf ein Aussen als Referenz für mein weiteres Tun und Sagen werde abstützen können. Freiheit in innerer Haltung zu leben ist ein schwieriges Unterfangen, ein beständiges Wagnis und ...
Sokrates modern! Freiheit ist nicht zu haben ohne sich mit dem Gift in der eigenen Unterwelt zu konfrontieren.

Ein neuer Anlauf und weiter reichende Zusammenhänge?
Geht es in der Abwehr der SKA als einer Unternehmung von Christian Clement möglicherweise gar nicht in erster Linie um eine Abwehr dieses Unternehmens, das dem Vorhaben nach kritisch geführt sein will?
Geht es vielleicht eher um die unterschwellige Furcht vieler randständig oder direkter auf dieses Unternehmen hin ausgerichteter Menschen dadurch zu sich selber in ein kritischeres Verhältnis unabwendbar und verstärkt eintreten zu müssen?
Geht es um die Herausforderung der seelischen Beobachtung als einer Schulung in kritischer Selbstbeobachtung von Phänomenen eigener seelisch - geistiger Bewusstseinsprozesse, geht es darum diese anzunehmen und mit den daraus sich ergebendn Konsequenzen zu leben, was aus meiner Sicht und beschränkten Erfahrung heraus alles andere als leicht ist?

Dritter Anlauf, nunmehr im engeren Sinne zur philosophischen Biographie von Rudolf Steiner.
Emanuel Kant äussert sich einmal dahingehend, dass es vor seiner "Kritik der reinen Vernunft" gar keine Philosophie gegeben habe. Eckart Förster widmet dieser Behauptung und einer weiteren Behauptung von Hegel, dass die Philosophie mit dem Jahre 1806 ende, ein bemerkenswertes Buch.
Eckart Förster - Die 25 Jahre der Philosophie - 2. Auflage 2012, Vittorio Klostermann GmbH,  Frankfurt am Main - Rote Reihe, ISBN 978-3-465-04166-5
Ich habe nun gerade erst damit begonnen mich mit diesem Buch tiefer auseinander zu setzen, habe aber an verschiedenen Stellen immer wieder fragend innegehalten, unter anderem an dieser ganz am Anfang des Buches. Kant schreibt in einem Brief an seinen ehemaligen Schüler Marcus Herz, dass er sich gestehen musste,

"dass mir noch etwas wesentliches mangle, welches ich bey meinen langen metaphysischen Untersuchungen, sowie andre, aus der Acht gelassen hatte und welches in der That den Schlüssel zu dem ganzen Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphys:, ausmacht. Ich frug mich nämlich selbst: auf welchem Grunde beruht die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?" 
Förster, Seite 13, Absatz 2.

Dies lesend habe ich mich gefragt,

hat Rudolf Steiner mit seiner Philosophie der Freiheit nicht über die grossartige Leistung der abstrakt konkreten Herausarbeitung der kritischen Vernunft durch Emanuel Kant hinaus gehend einer zukünftig noch vertiefter zu erarbeitenden kritischen Phänomenologie des Denkens als Bewusstseinsprozess eine erste Spur gelegt?
Diese Frage will ich als eine aus meiner Sicht eminent wichtige Forschungsfrage in die Runde stellen.

© baH, 29.01. 2015

Sonntag, 25. Januar 2015

Weil ich ja weiss, wie es richtig ist!

... Weil ich ja weiss, wie es richtig ist! ... Weil ich ja weiss ...
Beginnt nicht genau da, in unserer vielleicht allzu schnellen Positionierung, in einer (sehr leisen, zunächst kaum zu identifizierenden) Überheblichkeit schon das, was wir dann oft nach langen schmerzvollen Umwegen als Irrtum erkennen müssen?
Wie wäre es stattdessen damit: Nichts ist ungewisser als die Gewissheit. Wenn ich damit jetzt nicht den alles zersetzen könnenden Zweifel ins Feld führen, sondern nur anregen möchte in die Haltung der Gewissheit ein kleines Zögern gleichsam zu implantieren, ganz im Stillen es mir zu Gewohnheit werden lasse ein kleines Türchen offen zu halten, dass es auch anders sein könnte. Was verändert sich dadurch in mir, ganz leise? ...
Ich entwickle ein Haltung der Ehrfurcht hin auf ganz andere Möglichkeiten, wie es auch noch sein könnte.
Und im weiteren Verlauf dieses Weges, wo gelange ich hin, wenn ich lange genug in diese Richtung voran geschritten bin? Wenn sich eine Ehrfurcht an die andere zu reihen begonnen hat, wenn ich vielleicht auch zu einem Menschen aufschauen durfte, der aus meiner Sicht so viel mehr zu wissen scheint, als ich? Was dann, wenn sich das Freiheitsempfinden, der Drang es zum Ausdruck zu bringen immer stärker in mir zu regen beginnt, was dann?
Nach dem Hin- und Aufschauen in vielerlei Ehrfurchten werde ich dem ersten Anschein nach vor ein dunkles Tor geführt. Nach dem Hin- und Aufschauen, was ja auch einem von mir Wegschauen entspricht, einem nach Aussen Schauen, werde ich ganz auf mich zurück geworfen und erfahre, dass ich im Grunde
"weiss, dass ich nicht weiss (Sokrates)".  

Diese Art von Erfahrung, nach vielen lichtvollen Ehrfurcht Ausblicken und Ehrfurcht Aufblicken ist nicht leicht zu verdauen. Sich in einem gewissen Sinne wieder lösen von einer derartigen Erfahrungsweise fällt schwer. Aber sie ist notwendig, wenn ich Freiheitsfähigkeit aktivieren will, wenn ich nicht nur von der Notwendigkeit der Freiheit rede, sondern sie eigenständig auf die Füsse stelle.

Hier habe ich gestern „den Stift“ niedergelegt und kann aus aktuellem Anlass meine Gedanken nicht in der Weise fortsetzen, wie ich sie gestern noch vor Augen hatte.

Wie aktiviere ich nach den Tagen von: „Je suis Charlie“ Freiheitsfähigkeit? Bin ich in der Solidarisierung für „Charlie“ schon „Charlie per se“ mit all seinem Mut, seiner Risikobereitschaft stündlich mein Leben aufs Spiel zu setzen für die Freiheit des Wortes?

Wenn ich weiss, wie es richtig ist! ... stehe ich ich da unter Umständen, wenn ich mich hier  nur tiefer gehender beobachten will, nicht sehr, sehr nahe jenem Sandwirbel, aus dem ein Tornado entsteht, eine terroristische Bewegungsdynamik in mir, in der ich einige wenige Sandkörner zu einer weiter umgreifenden Bewegungsdynamik in der Welt unversehens beitrage? Solches, wenn ich es denn als einen kleinen Stolperstein in mir überhaupt wahrnehmen will, derartig untergründiges Ereignen schiebe ich natürlich schnell zur Seite, verlagere es in die Welt hinaus, um mich sodann, mit den fremdgesteuerten Folgen einer terroristischen Schreckenstat aus der Distanz zur keimhaft möglichen eigenen Mittäterschaft zu solidarisieren.
Mich bestürzt dieser Ausblick zutiefst und ich erlebe in mir, dass ich genau in diesem Augenblick jener oben bereits angesprochenen Erfahrung:

„dass ich weiss, dass ich nicht weiss“

noch um einiges, was die damit verbundene existentielle Intensität betrifft, näher gerückt bin. Ich stehe dem Feuer speienden Drachen aussen, wie innen gegenüber.
Resignation, Entsetzen, Zorn, um sich Schlagen, Depression und vieles mehr, was an dieser Erfahrungsschwelle in mir auftreten mag, dies alles in ein waches anschauendes Gleichgewicht in mir gebracht, wohin führt mich das? Gibt es überhaupt Sinn in dieser Richtung zu denken?

Um das wissen zu können, muss ich bereit sein über den Zustand des inneren Gleichgewichtes hinaus in die Stille einzugehen, muss ich bereit sein für die Erfahrung, im Bodenlosen Fuss fassen zu können. Durch was?
Durch den „guten Willen,“ der mich, von innen heraus wie neu belebend, mir nach und nach immer deutlicher zuwächst! Das Zünglein für Veränderung in der Welt bin ich und niemand anderes sonst! Bewegung ganz aus dem eigenen Kern heraus und durch nichts anderes als das.
Was zeichnet den guten Willen aus? Eine Erfahrung, die aus der Welt, in der wir uns bis anhin fest verankert fühlen nicht möglich zu sein scheint, dass es anders als wir sein könnten, welche die Urteile über die Welt und andere Menschen bilden. Eben aus einer dualen Weltsicht heraus.
Mit der tatsächlich existentiellen Erfahrung, „dass ich weiss, dass ich nicht weiss,“ verlagert sich die Möglichkeit dieser dualen Weltsicht gleitend oder mitunter auch ruckartig in eine nonduale Betrachtungsweise der Welt, das heisst, die Dinge und Menschen erklären sich durch sich selbst und das Ergebnis dieser sich aus sich selbst erklärenden Dynamik unterscheidet sich nicht selten sehr von meinen vorausgehenden Urteilen.

© baH, 11.01.2015

Selbstgeburt

Zum Beitrag von Burghard Schild: "Aus durchwachter Nacht" vom 17.1.2015 auf www.egoistenblog.blogspot.de eine Fortsetzung unter einem etwas anderen Gesichtspunkt.

Selbstgeburt voranzubringen ist, das Küken zeigt es uns, ein Weg durch Härten hindurch. Das Ei will aufgepickt, die zunächst kleine Öffnung erweitert werden, damit das Küken seinen Weg ins Leben hinaus finden kann.
Versetze ich mich in die Lage des Küken, dann entwickelt das Küken an der harten Eischale die Intention diese zu durchdringen. Alle Kraft wird gebündelt, um das Tor zum Leben hin zu öffnen. Zum Leben hin ...
Was aber ist Leben? Für das Küken ist Leben mit Nahrung verbunden, denn der Vorrat an Nahrung im Ei geht mit seinem Heranwachsen dem Ende zu. Deshalb verwendet das Küken alle Kraft darauf aus dem Ei schlüpfen zu können, um neue Nahrungsquellen zu erschliessen.

Wie aber sieht nun Selbstgeburt beim Menschen aus. Gibt es da Ähnlichkeiten auf dem Weg ins Leben hinaus? Dabei habe ich nicht die Geburt eines Kindes aus dem mütterlichen Schoss im Auge, sondern jene zweite Geburt des Menschen, seine Geistgeburt.
Geistgeburt, ein Weg der Selbstgeburt aus einer höher dimensionalen Erfahrung des sich in einem Ei eingeschlossen Empfinden. Selbstgeburt als ein Prozessgeschehen seinen individuellen Freiheitsweg aus sich heraus zu entfalten.
Was aber sind die Mittel dazu? Das Küken fokussiert, von dem Verlangen nach Selbsterhaltung getrieben, seine ganze Kraft in seinem Schnabel, um die Härte der Eischale aufzubrechen. Der Mensch sieht sich in seinem Seelenleben einer Vielzahl von Vorstellungen gegenüber gestellt, deren Härten zu durchdringen sind.
Härte!
Die Härte oder auch Notwendigkeit, vor die sich der Mensch hier gestellt sieht, ist die nur sehr langsam wachsende Einsicht, dass er sich in einem Geflecht von Abbildern verfangen hat, die er für Wirklichkeit hält, die ihn aber letztlich nicht befriedigen und seine Sehnsucht nach Leben nur noch mehr antreiben.
Leben, ein Prozessgeschehen aus der Liebe zum Handeln.
Liebe zu welchem Handeln? Die seelische Beobachtung kann Dir die Antwort darauf geben, sofern Du ihr ein inneres Freigehege überlässt, in dem Selbstgewissheiten aus den Vorstellungen, die zunächst Deine Welt sind, heranreifen können. Heranreifen dann, wenn Du die Vorstellungen, die Du Dir bildest nicht missbrauchst, um damit Urteile über andere Menschen zum Ausdruck zu bringen, sondern um Dich an diesen Vorstellungen zu erinnern wer Du selber bist. Es ist leichter über gewisse Vorstellungen einem anderen Menschen so dies und das anzuheften, als sich in diesen Vorstellungen, in der Art wie Du sie bildest, was Du einschliesst, was Du ausschliesst, sich selber zu erblicken.
In seinem Spätwerk spricht Rudolf Steiner davon Geisterinnern zu üben, in seinem Frühwerk beschreibt er wie Du über die seelische Beobachtung Deinen Weg zu eben diesem Geisterinnern finden kannst.
Ohne Selbsterkenntnis, die aus dem Geisterinnern hervorgehen kann, lässt sich kein wirklich nachhaltig förderlicher Umgang unter den Menschen begründen, lassen sich gegenwärtige soziale Ordnungen, wo auch immer heute auf der Welt, nicht im Sinne von gelebtem Respekt vor der Würde jedweden anderen Menschen geistgemäss umgestalten. Das stösst hart auf, hart auf auch für mich, der ich dies jetzt schreibe.
Selbstgeburt voranzubringen ist kein Spaziergang. Vor der österlichen Auferstehung ist der Durchgang durch den Hades, die Todeswelt eigener Vorstellungen zu bewältigen, immer wieder und mit jedem weiteren Male vertiefter ...
Das scheint mir das zu sein, was Rudolf Steiner vorgelebt hat. Der Vogel Phönix will auf dem Weg über die seelische Beobachtung zum Fliegen gelangen.

baH, 24.01.2015

Dienstag, 20. Januar 2015

... über die Brücke ...

Vorbemerkung:
Aus, vor dem Hintergrund meiner gegenwärtigen inneren Beobachtung her, aktuellem Anlass stelle ich nachfolgenden Beitrag aus einem zwischenzeitlich geschlossenen Blog vom Januar 2010 hier unverändert erneut ein. Auch wenn ich Möglichkeiten, an gewissen Stellen sogar eine gewisse Notwendigkeit zu Ergänzungen durchaus sehe, so will ich die in sich geschlossene Ursprünglichkeit meiner seinerzeitigen Aussage aus gutem Grund hier nicht aufbrechen. Erweiterungen, wie ich sie sehe können auch in nachfolgenden Beiträgen noch Eingang finden.
Die Autorin eines Kommentars zum ersten Teil dieses Beitrages konnte ich leider nicht mehr ausfindig machen, um ihr Einverständnis zum erneuten Einstellen ihres Beitrages einzuholen. Da dieser Kommentar aber das Bindeglied zum zweiten Teil meines Beitrages darstellt, hoffe ich auf nachträgliche Genehmigung, falls die Urheberin dieses Kommentars von meinem Tun Kenntnis erhalten sollte.

Der innere Beobachter ist einigen, die hier lesen und schreiben bekannt. Dass er das Tor zur Nondualität öffnet ist vielleicht nicht allen sogleich ein Erfahrungsbefund. Und doch ist es so, zumindest für diejenigen, die mit einer gewissen Nachhaltigkeit in ihm bereit sind tiefer zu fokussieren, d. h. eine innere "geerdete" Präsenz der Kraft auf zu bauen und wenigstens für einige wenige Augenblicke aufrecht zu erhalten
Die Nondualität ist nämlich die unmittelbare Erfahrung des Ich.
Eines Ich, das ich nicht nur als Ideal - Schild vor mir her trage, sondern das ich auf meine ureigene Weise in eben diesem Augenblick auch repräsentiere!
Eines Ich, das sich ausschliesslich auf sich stellend, bereit ist in seinen ureigenen Meister - Werde - Prozess einzutreten, eines Ich also, das ohne wenn und aber innerlich erwachsen werden will und demgemäss ohne Rückbindung oder Rückversicherung, welcher Art auch immer, in die Selbstverantwortung eintritt.
Gelingt es mir dem inneren Beobachter über ein intellektuelles Sandkasten Spiel hinaus die Kraft meiner ausschliesslichen Präsenz zu zuführen, dann gehe ich über die Brücke, die sich nicht auflöst, weil "Ich" Brückenbauer und zugleich Brücke bin."
Auflösen tut sich die Brücke nur dann, wenn ich meditierend im Idealselbst den Boden unter den Füssen verliere. Habe ich aber das Meditieren ganz praktisch, zum Beispiel beim Schuhe Putzen oder Geschirr Spülen, genügend geübt und gefestigt, dann wird mir das nicht mehr so ohne weiteres widerfahren können.
Manchmal lohnt es sich unter der "Wurstpelle" etwas genauer nach zu sehen, was da als zunächst unbemerkter wesentlicher Rest, achtlos in die Ecke gekehrt und in Unscheinbarkeit gehüllt, noch liegt. Erwachen ohne aktiven Rückgriff auf das Ich, schlechthin eine in sich widersprüchliche, in vermeintliche Erfahrung katapultierte Nicht Erfahrbarkeit.
Und doch auch stimmig, sofern dem Erwachen als Geschehnis innerlich genauer nachgegangen wird.
"Erwachen" überfällt denjenigen, der es erfährt nicht, es ereignet sich durch ihn etwas, auch wenn es plötzlich und unvermittelt auftritt - und dieses Ereignen will integriert sein. Das Auge sucht gleichsam denjenigen, der in seinem Augenaufschlag, erwachend für einen erweiterten Lichtbereich die Augen aufschlägt.
Wird etwa die Verfassung eigener Bewusstheit übend nicht nach gebessert, dann kann es geschehen, dass Erfahrungsträger dieser Art früher oder später in einer Niemandsland - Sphäre sich unmerklich selbst verbrennen. Kafkas Gleichnis vom Torhüter in seinem Roman der "Prozess" schildert in unnachahmlicher Weise einige Aspekte eines ganz anfänglichen Erwachens dieser Art und beendet dieses Gleichnis sinngemäss mit den Worten: Dieses Tor war nur für Dich geöffnet. Ich gehe jetzt und schliesse es.
Die Nondualität ist als Erfahrungsbefund ein mehr als scharfes Schwert. Es gehört Mut dazu sich diesem Erfahrungsbefund anzunähern und innerlich wirklich zu stellen, dieses Schwert in sich real wirksam zu verankern.
Ich wünsche allen, dass dieser Mut, den ein jeder hier in diesem Kreise auf eine unnachahmliche Weise in sich trägt, im neuen Jahr geerdet Fuss fasst und noch mehr nach aussen dringt. Die gegenwärtige Weltlage braucht dies, sie braucht diesen Not wendenden Mut mehr als alles Andere.
Und noch etwas, sie braucht Respekt und Wertschätzung jedweder anderen Individualität gegenüber, gerade dann, wenn diese Gedanken äussert, die gegen den gewissermassen vertrauten Strich gebürstet an der Grenze meines Bewusstseins andocken und mich herausfordern. Fassen wir doch mehr den Mut solche Gedanken von innen her in ihrem Erfahrungsgehalt zu erschliessen, als sie aus eigener kurzatmiger Bewusstseinskraft heraus all zu schnell als "nicht kompatibel" in die Wüste zu schicken.

Bernhard Albrecht

Susanne hat gesagt…
Der offensichtliche Weg des Menschen ist die Linearität. Für jeden Menschen auf dieser Erde existiert eine Brücke, die ihn zur Nondualität führt. Diese zu beschreiten, bedarf mehrerer Paradigmenwechsel, und nicht selten unternimmt der Mensch eigenmächtig Rückschritte, die ihn auf seinem Bewusstseinsweg wieder zurückwerfen. Die Verwandlung negativer Emotionen in positive ist die Grundlage zu einer weiteren Verwandlung des persönlichen Lebensinhaltes. Solange dieser emotionsgeladen (vorherrschend in der Liebe), konzepthaft und linear bleibt, kann diese Brücke nicht betreten werden. 

Es bedarf der Bereitschaft, den Fokus zu verschieben.

Dazu wiederum ist großer innerer Mut und Kraft notwendig, da das äußere Leben dadurch oftmals ins Wanken gerät und man Anfechtungen ausgesetzt ist, die aus gerade der Richtung kommen, welche die lineare Welt aufrechtzuerhalten bemüht ist.
 
Es fängt an mit dem Augenblick, in dem die innere Realität erscheint und diese goldene Brücke sichtbar werden lässt. 

Das höhere Ich erhebt sich über das Ego und betritt die Brücke. 

Von diesem Zeitpunkt an ist alles möglich und nichts mehr so wie es vorher war.

 

Für das Ego ist die Brücke nicht geschaffen.

 

Was ist Verantwortung?

Ich selbst zu sein mit meiner ganzen Präsenz.

Meine zyklischen Schwankungen und Wechselwellen mit meinem bewussten Willen immer mehr zu kontrollieren und sich ihnen immer weniger ausgeliefert zu fühlen.

Ich habe Verantwortung, alle Rückschläge und vermeintlichen Dunkelheiten zu erkennen und zu bearbeiten.

 

Die Irrwege des Lebens haben mich nun in diesen Blog geführt, in dem sich ähnliches Ringen vollzieht.



Und es stimmt für mich, dass sich bei der Meditation die Brücke auflöst.

Wenn ich aber beim Bügeln oder Spülen meditiere, dann kann ich gleichzeitig auch über die Brücke gehen.

Alles eine Sache der Fokussierung.

Und wenn im Idealfall ein Mensch neben mir steht, der abtrocknet, während ich abwasche, während wir beide uns noch ganz woanders befinden und ein dritter diese äußerlich so wenig spektakuläre Tätigkeit betrachtet, so wird er nicht sehen, dass wir mit einem Bein auf der Erde und mit dem anderen in Gottes Allgegenwart uns befinden.

In der Liebe.

Er ist abgetrennt von uns.

Solange er in der Linearität verweilt und unser Erwachen nicht teilt.


Lasst uns unsere Grenzen erweitern und 

Innen 

Aussen 

W E R D E N
Susanne

Eine späte Antwort an Susanne
oder auch ein kleine Fortsetzung zu meinem Beitrag ... über die Brücke ... vom 02.01.10.

Ob es so offensichtlich ist, das der Weg des Menschen die Linearität ist, das will ich einmal dahingestellt sein lassen. Auch wenn der äussere Anschein mitunter Hinweise zu geben scheint, dass dem so sei, so ist damit noch nicht gesagt, dass dem auch so ist.
Der Mensch oder ganz konkret, in einer Weiterführung Ihres Kommentars auf meinen Beitrag vom 2.1.2010 hier in MW, ich, ich bin nicht so gestrickt, dass meine nächsten Schritte sämtlich linear prognostiziert werden, bzw. in einem rückschauenden Überblick als lineare Entwicklung so ohne weiteres zusammengefasst werden könnten. Und auch so mancher Mitmensch, den ich auf den ersten Blick leichthin einer linearen, einförmigen Lebensbewegung zuordnen könnte, ist näher betrachtet viel komplexer gestrickt, so dass Linearität in seinem Leben nicht mehr als ein Muster unter vielen darstellt.
Ist eine derartige Betrachtungsweise also nicht mehr oder weniger starken Vereinfachungen unterworfen und verliert sie nicht allzu leicht das Einzigartige Individuelle aus dem Zentrum ihres Blickwinkels? Einfach, weil der Mensch, solange er sich mehrheitlich im Kreise seiner Ego Anhaftungen bewegt, mit Schablonen vor den Augen sich die Wirklichkeit verzerrt.
Das Paradigma ist eine Folge vereinfachender Prozesse, es ist die Folge einer über längere Zeit ausgeblendeten oder auch verloren gegangenen Offenheit für das so ganz Andere, das jedem Menschen oder einem anderen, erweiterten Lebenszusammenhang eigen ist. Es ist, pointiert gesagt, ein Verrat an der naturwissenschaftlichen Bewusstseinshaltung, die auf Beobachten fusst, auf nichts anderem als Beobachtung und nicht auf einem im Grunde willkürlich ausschliessenden und eingeschränkten Fokus.
Es geht also in menschlichen Belangen nicht um einen Paradigmenwechsel und damit um das Torkeln von einer Abstraktionsfalle in die Nächste, sondern um das sich selbst Erinnern zur Offenheit für das „Einzigartige Individuelle „ eines jeden Menschen.
Ob ich in einer menschlichen Begegnung wirklich offen bin, bzw. den gesprochenen Worten eines anderen Menschen gegenüber Offenheit aufrecht erhalten kann, das kann ich auf eine recht einfache Art und Weise bei mir selber nachprüfen, wenn auch die konsequente Umsetzung dann schon etwas schwieriger ist.
Überall, wo sich unmittelbarer Widerspruch auf das Sagen eines Menschen bei mir allzu rasch anmeldet und nicht bezähmt werden kann da stehe ich zumindest stark in der Gefahr die Offenheit auf ihn hin zu verlieren, weil ich unversehens eigene Wertungsmuster ins Spiel werfe und damit vielleicht bestimmte Schattierungen in seinem Sagen überblende noch ehe ich sie in ihrem umfassenderen Gehalt mir zum Verständnis bringen konnte.
In jedem Sagen eines Menschen ist mehr oder weniger deutlich eine Provokation eingebettet, eine Provokation zum Werden des anderen Menschen, zum Werden aber ohne Vorgabe.
„Ohne Vorgabe:“ Ich höre den Widerspruch schon heran rauschen, der sich auf diese meine Aussage hin unmittelbar aufbauen will.
Nun, ich will Sie Susanne einladen und alle anderen Leser dieses Beitrags ebenso, einmal genau hier den Versuch zu machen Ihren Widerspruch zu bezähmen und stattdessen darauf hin zu lauschen versuchen, was unter Aufrechterhaltung einer inneren beobachtenden Haltung auf das von mir Gesagte hin, bzw. auf die Gedankentumulte, die aus Ihrer Innenwelt hier möglicherweise ausbrechen möchten; - einfach nur hin zu schauen wie auf eine Theaterbühne, auf der ein Drama gespielt wird oder auch eine Komödie. Beides ist möglich und keinesfalls ein Widerspruch in sich. Sie sind der Regisseur und was und wie Ihnen die erzählende Handlung herüber kommt, das bestimmen Sie durch ihre Gestimmtheit im Beobachten des inneren Theater Geschehens. Vorschnell Interpretieren des Gesagten oder O f f e n h e i t!
Wenn Sie am Ende, nach vielleicht sogar mehreren Tagen der inneren Rückkehr zu einer weiteren Beobachtung dieses Theatergeschehens, über das ein oder andere Lachen können oder mit der Bemerkung, aha, so ist das also, innerlich durch schnaufen, dann haben Sie einiges von Ihrem abgelagerten Ego Mist entsorgt und ja, sie werden hier vielleicht erneut „hui“ oder etwas Ähnliches innerlich über Ihre Lippen springen lassen, Sie werden diesen „EGO-GOLDMIST“ gewinnbringend in Ihre Entwicklung investiert haben. Einfach dadurch, dass Sie sich haben provozieren lassen.
Das EGO ist per se nicht schlecht oder etwas das in den Schrank gestellt und weg gesperrt werden müsste. Im Ego manifestieren sich vielmehr in letzter Konsequenz bis in die Erstarrung hinein geronnene Gedankenmuster. Solche Muster geben Halt im Leben, geben auch Schutz, bis das Selbstbewusstsein so weit gereift ist, dass es aus sich heraus das freie und seiner selbst in Beobachtungsgegenwärtigkeit bewusste Ich gebären kann. Das Ego beschenkt mich also mit den Wänden für mein Selbstbewusstsein und ohne diese Verankerung in einem eigenen Haus, kann das Ich seinen Gang über die Brücke nicht antreten. Ohne Akzeptanz des Egos als dem Ich vorauseilender Diener, bleibt die Brücke eine idealisierte Illusion, um nicht zu sagen eine Fata Morgana.
Erstarkt das Ich im Verlauf meines Lebens, dann können Wände in Form von Denkmustern, die das Ego zur Verfügung gestellt hat, allmählich abgebaut, in schöpferische Bewegung moduliert werden. Das Ich entwickelt eine in sich selbst tragende Kraft. Es wird heimisch im Schöpferischen. Es begegnet der Fülle, weil es selbst Quellpunkt der Fülle ist.
Meine Verantwortung besteht also darin bereit zu sein, der Provokation durch andere Menschen an meinem Weg standhalten zu lernen. In der Begegnung mit Ihnen, auch in der Konfrontation eine lauschende Beobachtungsschärfe zu entwickeln, für das, was sich ausgelöst durch ihr Denken in meinem Denken als D a s spiegelt, was mich in der einen oder anderen Weise zur Evolution aufruft. Erwachen in D a s hinein, was sich spiegelt, Selbstbegegnung akzeptieren zu lernen. Unterscheiden, dass, wenn ich vom Widerspruch verführt an der Selbstbegegnung vorbei, gegen diesen oder jenen Gedanken des anderen Menschen allzu schnell Sturm laufe, ich vor mir selber davon laufe.
Apropos davonlaufen, manchmal kann es sein, dass Gesagtes, das an mich herantritt von mir noch nicht aufgelöst, in mein Sein eingebettet werden kann, einfach weil die Zeit für dieses Thema noch nicht reif ist. Dann kann es hilfreich sein derartiges gleichsam innerlich in einer Art Kiste zwischen zu lagern und bei späterer Gelegenheit erneut zu betrachten und dann vielleicht zu sehen, das sich ein erweitertes Verständnis dafür zwischenzeitlich entwickelt hat. Ich jedenfalls habe in dieser Richtung im Laufe meines Lebens gute Erfahrungen gemacht.
„Ablegen mit einer "offenen F r a g e“"
Es geschieht auf diesem Wege nämlich Erstaunliches! Die Frage entwickelt sich durch sich selbst auf eine Antwort hin, bzw. führt mich in Situationen, die erhellend auf diese innerlich abgelegte Frage einwirken können. Ich mache mich damit frei für ein Zusammenspiel von Bewegungen aus unterschiedlichen Quellen  innerhalb verschiedener Begegnungen.
Es geht auch nicht darum im Verlaufe der inneren Begegnung mit fremdartigen, provozierenden Gedanken die eigenen negativen Emotionen in positive zu verwandeln, es geht vielmehr darum den inneren Beobachter zu ermutigen, ihn anzuspornen durchzudringen, d.h. auf ein Verständnis hin zu schärfen, insbesondere dann, wenn ich durch bestimmte Indizien der Auffassung bin gute Gründe zu haben, dass die Aussagen des anderen Menschen in dieser oder jener Hinsicht schief oder gar falsch sind. Wenn, ich wiederhole es, wenn ich mich innerlich weiter entwickeln will, dann geschieht dies mit Sicherheit weniger kurvenreich, je mehr ich mich in die Lage versetze in der Betrachtung fremder Gedanken mein Interpretieren aussen vor zu lassen.
Zum vorläufigen Ende dieser Ausführungen noch eine kleine Bemerkung zur folgenden Aussage von Ihnen Susanne vom 05.01.10:

„Wann wirft der in der Sonne Stehende keinen Schatten seiner Selbst auf die Erde?“

Wenn es mir gelingt nach inneren Kämpfen mich (vielleicht auch nur im stillen Kämmerlein) vor ein Du, mit dem ich im Widerstreit gestanden bin, das Haupt zu beugen. Wenn ich mich ob meiner inneren Nacktheit nicht schäme, sondern ja sagen kann zu dem durch ihn mir zugefügten Schmerz, weil dieser Schmerz mich hin geschliffen hat zu einer höheren Ich – Gegenwärtigkeit, der Geburt nondualen Erfahrens. In so einem Moment kann es geschehen, dass mich ein Licht durchdringt, das mich für einen kurzen Augenblick so umhüllt, dass kein Schatten bleibt. Auf diesen Aspekt möglichen Erfahrens fällt in solchen Augenblicken selten die Beobachtende Aufmerksamkeit. Und das ist vielleicht auch gut so, denn es könnte auch einen angesichts dieses Erlebens unangemessenen Vollkommenheitsrausch auslösen. Letztendlich wird ein derartiges Erleben aus meiner Sicht im vollen Umfang erst der Endzeit einer Entwicklung meines Menschseins voll zugänglich werden können.
© baH, 20.01.2015

Samstag, 10. Januar 2015

Unter der Platane - Ein Dialog über die Zeiten hinweg im zeitlosen Nullfeld, Teil II


Kretos: Das Landgut der Mutter auf Euböa, wohin sich Aristoteles nach dem Tod von Alexander und dem in seiner Folge erneut tiefen Aufflammen der Feindschaft zwischen Mazedonern und Athenern geflüchtet hatte, lag in einer einzigartigen Landschaft. Mannshohe Thymian-, Rosmarin- und Ginster-Sträucher bildeten eine natürliche Begrenzung gegen die Küste hin. Unterbrochen wurde dieser Naturwall gegen die steile Nordklippe allein durch einen Platanenhain in der Mitte. Hier, Saphira, waren Platanen bis in die Felsen hinein gewachsen und bildeten so einen Schutzwall gegen die rauen Winde, die von Norden her besonders im Herbst und Frühjahr stürmisch und nicht selten von Schnee begleitet über die Insel fegen konnten. Hierher also hatte uns Aristoteles durch seine Briefe gerufen.
Er empfing uns inmitten der Blumenwiese vor dem Landhaus, auf der vielfarbig beieinander auch die seltene persische Rose blühte. Wie er auf unser stilles Erstaunen hin später im Hause verriet, war dies die Lieblingsblume seiner Mutter gewesen. Zunächst aber war er nichts als ein freudiger Gastgeber, der seinen Freunden die Schönheiten seines Hauses zeigte.

Saphira: Deine in die Tiefe gehende Sprachbewegung, mein lieber Kretos, versetzt mich in meinem Erleben unmittelbar in den Garten vor dem Landhaus. Mir ist es als zöge der Duft der Rosen durch meine Nase.
Wenn ich nicht auf Reisen in Ägypten gewesen wäre, dann hätte ich diese letzte Begegnung seiner engsten Schüler mit Aristoteles teilen können.

Kretos: Sei nicht traurig. Du warst unscheinbar mitten unter uns anwesend.

Saphira: Ja Kretos, denn jetzt, da ich von Dir um den Todestag des Aristoteles weiss, muss ich sagen, dass ich gerade an diesem Tag ihm zutiefst in Gedanken nahe war.
Wie verlief euer Gespräch also jenseits meiner inneren Verbundenheit mit euch tatsächlich an diesem Tag?

Kretos: Nachdem uns Aristoteles also vor seinem Landsitz empfangen hatte, versammelten wir uns im grossen Wohnraum des Landhauses mit seinen zur Nachmittagssonne hin ausgerichteten Fenstern. Phöbus, der Diener des Aristoteles hatte eine Liege in der Mitte dieses Raumes bereit gestellt, auf der sich Aristoteles, unverkennbar gezeichnet von einer tiefgründigen Erschöpfung, sogleich niederliess. Auf unsere leise geäusserte Beunruhigung hin, winkte er lächelnd ab und begann zu sprechen.
„Ihr alle kennt meine Eigenart im Gehen mein Denken zur Entfaltung zu bringen. Saphira und Kretos schon seit den Anfangstagen meiner Lehrtätigkeit in Platons Akademie.“
Deinen Namen nennend hielt er einen Moment lang inne, neigte sein Haupt ein wenig zur Seite und lächelte wie still in sich hinein, ehe er fortfuhr zu sprechen. Für mich wurde dadurch sichtbar, dass er um Deine innere Nähe zu diesem Zeitpunkt wusste und das löste in mir den Schmerz, den ich um Dein Fernsein empfunden hatte, augenblicklich auf.

Saphira: Obwohl äusserlich nicht verwandt, scheinen wir doch im Geiste so etwas wie Geschwister zu sein. Das ist mir durch all die Jahre unserer nunmehr beinahe ein ganzes Leben lang währenden Freundschaft immer wieder vor Augen getreten.

Kretos: Mir ist es damit nicht anders ergangen.

Saphira: Ich weiss das, doch will ich mich zügeln, damit ich nicht ins Plaudern mit Dir verfalle.
Wie also sprach Aristoteles weiter zu euch.

Kretos: Er sagte: „Ich habe mir diese Art zu denken willentlich anerzogen, weil ich allein darin eine Möglichkeit sah die unmittelbare Kraft meiner Mysterien-Erfahrungen wirksam vermitteln zu können. Ich musste im Denken den Willen ansprechen und so begann ich vor meinen Schülern denkend auf und ab zu laufen.
Ihr habt alle erfahren, welche unmittelbare Konzentrationskraft sich da im Laufe meiner Vorlesungen bei euch innerlich in eurem Denken aufbaute. Denken und Willen dürfen nicht auseinander fallen, wenn die Mysterien Weisheit in einer fernen Zeit einst erneut erwachen können soll. Dies Vermächtnis lege ich hiermit in eure Hände. Möget ihr es allzeit beschützen.“

Wir aber spürten bis in unsere Zehen hinein den grossen Ernst, mit dem er dies zu uns sprach und bildeten ohne Worte in unserem Gehen einen Kreis um ihn.

Doch genau in diesem Augenblick Saphira, da Aristoteles auf die innere Kraftgestalt in seinem Denken zu sprechen kam, die ihm nach seinen Worten das wichtigste Anliegen in seinen gesamten dialogischen Lehranweisungen in und ausserhalb der Akademie gewesen war, genau an dieser Stelle unseres gemeinsamen Austausches mit ihm verlies ihn seine physische Kraft und er winkte seinen Diener Phöbus herbei, um uns hinaus zu geleiten.
Wir waren natürlich beunruhigt ob des so plötzlichen Kräfteabfalls von Aristoteles, auch wenn wir seine Schwäche während unserer Unterredungen immer wieder wahrgenommen hatten. Dass ihn aber seine Kräfte so unmittelbar verliessen, das hatten wir nicht erwartet. Sollte unser Gespräch mit ihm unvollendet bleiben?
So standen wir innerlich bangend beieinander und wussten nichts zu tun ausser still vor uns hin zu schauen. Phöbus war noch einmal zu Aristoteles hinein gegangen und für uns schien derweil die Zeit still zu stehen. So bemerkten wir erst, dass Phöbus wieder zu uns gestossen war, als er schallend lachend in seine Hände klatschte.
Die Stille zwischen uns zerplatzte gleichsam und wir schauten einander verdutzt an, bis uns wie erwachend wechselseitig klar wurde, dass wir alle, ein jeder von uns in eine andere Richtung gehend durch den Raum gewandert waren. Aristoteles pflegte dies zu tun, wenn er über etwas tief nachsann oder in der Akademie vor seinen Schülern sprach. Und wir konnten nicht anders, als in das Gelächter von Phöbus mit einzustimmen.

Saphira: Ach Kretos, wie schön! Lachen an der Schwelle des Todes. Dich hörend überkommt mich von innen genau jenes Lachen, das ich so oft aus dem Munde von Aristoteles vernahm, wenn er unvermittelt zwischen gewichtigen Gedankengängen innehielt und schallend zu lachen begann. Ein jedes Mal, so erinnere ich mich voller Dankbarkeit, ging bei diesen Anlässen wie ein Ruck durch mich hindurch, der das Gehörte, wie ich jetzt nach vielen Jahren weiss, erdete und so das Keimen weiteren sich vertiefenden Verstehens ermöglichte. Aristoteles war doch ein sehr lebendiger Mann!
Er hatte nichts von der Steifheit so mancher Mysterien Gelehrter an sich, die sich fast immer höher stehend als das gemeine Volk verstanden, sich überheblich und besserwisserisch in Zirkeln ihresgleichen gegenüber diesem abschotteten. Kein Wunder, dass die einfachen Bürger von Athen nicht besonders gut auf die Mysterien Schulen zu sprechen waren. Ihre Vertreter überzeugten in der Lebenspraxis ihrer höheren Bildung einfach zu wenig. Aristoteles war da eine Ausnahme.

Kretos: Du sagst es. Aristoteles unterschied sich in seiner tiefen Menschlichkeit schon sehr von den meisten Angehörigen der Mysterien Schulen. Von dem abgesehen, dass er kein Bürger von Athen war und von daher schon sehr vorsichtig sein musste, in dem was er öffentlich sagte. Es traf ihn viel Neid, einfach weil er in seiner Lebensart so ursprünglich und anders war. Er war nicht einzuordnen.
Wenn Platon nicht gewesen wäre, der ihn im Hintergrund zu schützen wusste, er hätte Athen schon viel früher verlassen müssen. Selbst als Platon und Aristoteles sich von ihren Grundanschauungen her getrennt hatten, wusste Platon die Fäden noch so zu ziehen, dass Aristoteles und einige weitere Schüler seiner Akademie Athen unbehelligt in Richtung Kleinasien verlassen konnten.
Ohne den Schutz durch Platon entging Aristoteles nach seiner erneuten Rückkehr nach Athen und der darauf folgenden mehrjährigen Lehrtätigkeit an der neuen, nach aussen hin von seinem Schüler Theophrast geführten Akademie, nur sehr knapp der Verhaftung wegen Gotteslästerung. Diese aber hätte ihm das gleiche Schicksal wie seinerzeit Sokrates eingebracht. Er wäre um den Schierlingsbecher nicht herum gekommen.
Was Sokrates von Aristoteles unterschied, war, dass dieser schon zu Lebzeiten den Schierlingsbecher in innerer geistiger Regsamkeit leerte. Wie ich aus der langjährigen Nähe zu ihm weiss, geschah dies vor allem immer dann, wenn er sich gegenüber gewissen Mysterien Entwicklungen, was durchaus auch öffentlich geschah, abgrenzte, weil er nichts Lebendiges mehr in ihnen zu sehen vermochte.

Saphira: Den Schierlingsbecher nach innen zu nehmen, ihn rein geistig immer und immer wieder zu leeren, darin war er ungemein modern und seiner Zeit weit voraus. So verwandelte er auch den Hochmut, welchen die Mysterien Vertreter bei allzu vielen Gelegenheiten dem gemeinen Volk, wie in Sonderheit auch Aristoteles gegenüber an den Tag legten, er verwandelte dieses Gift, indem er ihnen gegenüber weitgehend schwieg.
In seinem Denken bildete er damit, unbemerkt von den das gesellschaftliche Leben Athens beherrschenden Mysterien Vertretern, eine innere Kraftgestalt aus, welche die Kernkraft der alten Mysterien Weisheit in eine neue Zeit hinüber zu tragen in der Lage war.
Aristoteles versteckte hinter seiner Niederschrift der Kategorien und in anderen schriftlichen Werken gleichsam die Essenz der Mysterien Weisheit und sprach in seinen Vorlesungen aus der Kraft seiner Mysterien Erfahrungen heraus. Dadurch wirkte er auf seine Schüler an den beiden Akademien, an denen er lehrte, wie auch auf seine Zuhörer unter dem gemeinen Volk auf den Märkten Athens in einer Weise authentisch, die seines gleichen suchte.

Kretos: Ich könnte es nicht besser ausdrücken. Doch lass mich zu unserer letzten Unterredung mit Aristoteles zurückkehren.
Phöbus war also zu uns erneut herausgetreten und nachdem wir unser gemeinsames schallendes Gelächter nach und nach wieder gezügelt hatten, teilte er uns mit, dass Aristoteles sich von seinem Kräfteverfall erholt und bereits wieder rote Backen habe. Er unterrichtete uns auch davon, dass er ihm die Anweisung gegeben hätte für uns alle in seinem weitläufigen Landhaus Liegen bereit zu machen, damit wir die Nacht über in seiner Nähe zubringen könnten. Er wolle die ihm noch verbleibende Zeit bis zuletzt ausnützen, um uns das mitzuteilen, was ihm noch ein Anliegen sei.
Kaum über der Schwelle und ehe wir uns noch um Aristoteles herum versammeln konnten, begann er dann auch schon zu sprechen. Von Schwäche war nichts mehr zu spüren.

„Ihr seid keine Schüler mehr, habt, ein jeder auf seine Weise, eure ureigene Kraftgestalt im Denken entfaltet! Bewegt euch also frei im Raum. Ihr helft mir durch euer euch Bewegen, dass ich die Gedanken, die ich euch noch übermitteln will, auch ausformen kann. In unserem meisterlichen Denken sind wir in einer übergeordneten Kraftgestalt miteinander verbunden. Wir schöpfen zusammen aus einer Quelle, aus dem Sonnenlogos, der im Begriff steht ganz auf den Urgrund des Denkens hin sich auszugiessen. Dies ist die Essenz meines übersinnlich, geistigen Erfahrens in Eleusis, wie es sich in jungen Jahren vor meinem inneren Auge entfaltete und wie es durch die Jahre gereift vor euch nunmehr in Erscheinung treten kann.“

Saphira: Halt ein Kretos, halt ein! Wenn ich das, was Du soeben von Aristoteles berichtest ganz meinem inneren Erfahren übergebe, dann bläst gleichsam ein Wirbelwind wie durch mich hindurch. Alles dreht sich in mir und doch stehe ich aufrecht vor Dir, mit einem klaren Blick auf die Worte des Aristoteles und ihre Tragweite. Ich spüre die grosse Verantwortung, die wir füreinander und darüber hinaus tragen und ich sehe die zeitliche Dimension, in die hinein wir miteinander eine Aufgabe haben. Dies alles aber drückt mich nicht nieder, sondern lässt mir gleichsam Flügel wachsen. Ja, wir sind Vorreiter für eine neue Zeit!

Kretos: Mit diesen Worten, Saphira, hilfst Du mir Dir noch von etwas zu berichten, auf das Aristoteles in dieser für uns so denkwürdigen Begegnung zu sprechen kam und das uns alle  nach dem Vorausgehenden nicht wenig überraschte.
Er erzählte uns, während wir gemäss seiner Aufforderung uns in verschiedenen Richtungen durch den Raum beständig in Bewegung hielten, er berichtete uns über seine Erziehertätigkeit am Hofe König Philipps von Mazedonien für dessen Sohn Alexander. Dabei kam er auf die von ihm bereits angesprochene Kraftbewegung im Denken in einer ganz neuen, bis anhin nicht erwähnten Weise zu sprechen.
Es war buchstäblich ein wenig so, dass uns allen bei dieser seiner Herangehensweise an das Thema der Atem stockte, indem er auf das Folgende hinwies:

„Die Kraftbewegung, die sich aus dem Denken zu entfalten hat, geht aus dem Vermögen hervor dem Drachen in euch zu begegnen und dessen Kräfte, die ihr, mehr und mehr erwachend, in euch in ein inneres Gewahrsein werdet überführen können, langsam zu verwandeln. Mit anderen Worten, die vielfältigen Triebkräfte in euch in ein Licht erfülltes, hochaktiv geführtes Denken zu integrieren, das wird die Aufgabe auf dem Weg in ein zu erneuerndes Mysterien Wesen sein.
Ihr kennt alle irgendwelche mythischen Geschichten und Bilder, in denen der Drache eine Rolle spielt. Vor diesem Hintergrund sage ich euch jetzt: Alexander war der letzte Drachenreiter einer weit in vergangene Zeiten zurück reichenden mythisch magischen Tradition, die in der Übergangszeit zu einem langsam aufgehenden neuen Mysterien Zeitalter ein letztes Mal in Erscheinung trat. Er hat in seiner Zeit noch einmal etwas vollbracht, was unter den wachsamen Augen führender Mysterien Lehrer dazumal eigentlich schon sehr lange nicht mehr für möglich gehalten wurde und das nur gelang, weil Alexander gleichzeitig über eine ungewöhnlich reine Seele verfügte. Damit war er aber nicht nur ein letzter Drachenreiter, sondern für eine ferne Zukunft zugleich Vorbote für dereinst wiederkehrende Drachenreiter. Diesen Menschen für seine Aufgabe innerlich vorzubereiten, dafür hat mich König Philipp nach Mazedonien gerufen.“


Saphira: Kretos, was Aristoteles euch da über Alexander berichtet hat, das klingt ungeheuerlich. Wenn das noch zu seinen Lebzeiten bekannt geworden wäre, er wäre umgehend ermordet worden. Diese seine Sichtweise, das kann ich mit Bestimmtheit sagen, war und ist nämlich sowohl für die pro-mazedonischen, wie auch für die anti-mazedonischen Vertreter in Griechenland unhaltbar. Aristoteles war klug genug über dieses sein Erfahrungswissen zu schweigen.

Kretos: Dass es Erfahrungswissen des Aristoteles war, in das er uns jetzt kurz vor seinem Tod in einer so besonderen Weise Einblick gewährte, erhellt sich aus einer Reihe weiterer Hinweise, auf die er bei unserer Zusammenkunft noch zu sprechen kam. Ich fasse die wesentlichen Punkte zusammen.
Alexander sei in ein extrem schwieriges Lebensumfeld hinein geboren. Als einziger Sohn König Philipps von Mazedonien mit seiner Frau Olympias und damit Teil  eines eher wilden Kriegervolkes, dem Bildung sehr viel ferner lag, als den Bürgern von Athen, in seiner Wesensart aber zugleich zart und feinfühlig veranlagt, hatte er zwei Extreme in sich auszugleichen.
Wie Aristoteles uns wissen liess, sah Philipp wegen der Zartheit und Bewegungsunruhe von Alexander, in ihm nicht durchweg den Sohn, mit dem zusammen er seine Machtambitionen glaubte umsetzen und festigen zu können. Obwohl er schon sehr früh, wie es sich späterhin zeigte zu früh mit dessen militärischer   Ausbildung begonnen hatte,  ergaben sich erhebliche Schwierigkeiten, die zu einem mehrfachen Wechsel der Erzieher von Alexander führten.
Als Aristoteles schliesslich die Aufgabe übernahm Alexander mit anderen adeligen Schülern auszubilden stand er durch allzu viele zuvor begangene Fehler vor einem fast unlösbaren Problem. Alexander sei einerseits sehr unstet in seinem Verhalten, d.h. sehr bewegungsumtriebig gewesen, auf der anderen Seite aber ebenso intensiv in seinem Lernwillen, wenn er denn einmal innerlich zur Ruhe gekommen war. Für Aristoteles eine grosse Herausforderung ihn lehrend zu fördern.
Für Philipp eine Überforderung seiner Geduld, die in polternden Unmutsäusserungen sich äussernd, seine Frau Olympias dem Kind Alexander gegenüber auszugleichen hatte. 
Aristoteles legte daher, um Alexander in der Ausbildung nicht wie anfangs Philipp zu überfordern, sehr bald ein besonderes Augenmerk auch auf dessen Freunde, von denen er ebenfalls eine Reihe, unter ihnen Hephaistion, zu unterrichten hatte und untersagte zunächst jedwede weitere Kampfübungen für Alexander. Er baute damit einerseits in weiser Voraussicht auf die hilfreiche Unterstützung der Freunde für Alexander, wenn dieser einmal alleine die ganze Bürde seiner Aufgabe zu tragen hätte und verschaffte Alexander eine Atempause in seinem Widerwillen gegen seinen Vater, um sich selber zu finden. Dem in seinem Grundcharakter massvollen Hephaistion wandte er sich in besonderer Weise zu und erzog ihn, soweit er es vermochte zu einem inneren Wächter über die immer wieder ausbrechenden divergierenden Seelenstrebungen von Alexander.
Beängstigend war nach Aristoteles Worten für ihn der Umstand gewesen, dass Alexander das Pferd Bukephalos zu zähmen im Stande gewesen sei. Das war geradezu ein Bild für die in ihm wirkende wilde Kraft. Würde er sie im Zusammenspiel mit diesem Pferd mit der Zeit zu bändigen verstehen? Konnte er selber genügend Aufmerksamkeit für die führende Kraft des Denkens in Alexander veranlagen? Die ihm gegebene Zeit dafür war mehr als kurz bemessen.
Wann immer Aristoteles späterhin Alexander bei seinen Kampfübungen direkt beobachten konnte, so berichtete er uns, sei er von Mal zu Mal innerlich fassungsloser vor den sich vor seinen Augen abspielenden Kräftebewegungen geworden. Es sei ihm vor seinem inneren Auge immer deutlicher geworden, dass die Kräfte, die diesen jungen Menschen innewohnten und mit denen er sich in die schier gefährlichsten Situationen für sein junges Leben begeben konnte, um aus ihnen ebenso unglaublich beinahe immer ohne irgendwelche Blessuren wieder hervor zu gehen, nicht mit seinen kriegerischen Volkskräften alleine zu erklären waren. Hier wirkten noch ganz andere Kräfte.

Saphira: Ich erinnere mich hier an Geschichten meines Vaters in der frühen Kindheit, in denen er mir von Drachenreitern einer fernen Vergangenheit erzählte und von den schier unglaublichen Kräften dieser Männer und Frauen, die in einer Reihe magischer Rituale für diese ihre Aufgaben vorbereitet worden waren.
Als ich ihn in späteren Jahren noch einmal auf diese Geschichten ansprach, erwähnte er beiläufig, dass die Mysterien das Wissen um diese Rituale längst verloren hätten, da über viele Jahrhunderte hinweg keine Menschen mehr geboren worden seien, die auch über nur annähernd vergleichbare Kräfte verfügt hätten wie diese mythischen Drachenreiter.
Manche der Gelehrten an der Schule von Eleusis seien heute der Auffassung, dass es diese Drachenreiter nie gegeben hätte, er selber aber teile diese Auffassung nicht. Er wisse nämlich, dass in der gesamten zurück liegenden Mysterien Tradition nie etwas schriftlich niedergelegt worden sei, was sich so nicht ereignet hätte und da diese Drachenreiter Geschichten  heute noch in der Bibliothek von Eleusis nachzulesen seien, hätte es diese Drachenreiter auch gegeben. Sie seien eben noch rechtzeitig aufgeschrieben worden und damit vor dem Verlust durch die heute so geschwächte Erinnerungskraft bewahrt worden.

Kretos: Genau darauf verwies auch Aristoteles in seinem so unglaublichen Bericht über Alexander mit folgenden Worten:

„Ich stand vor einer Aufgabe, für die mir das Mysterien Wissen fehlte und konnte mich so nur auf mein beobachtendes Denken stützen.
Beobachtete ich Alexander, so wurde mir dabei immer deutlicher, hier wirkte eine Unmittelbarkeit in der Kraftbewegung die einer Geistesgegenwart gleich kam, ohne dass diese vorausgehend geschult worden war. Alexander bewegte sich so unbefangen in und mit diesen Kräften, dass er schneller war, als die gegen ihn geführten Kampfbewegungen. Dieses ermöglichte ihm daher meistens, von einigen wenigen Schrammen abgesehen, weitgehend unverletzt aus den Kampfhandlungen hervorgehen zu können.
Er war ein Göttersohn. Beschützt und getragen von Götterkräften schien er die Absichten seiner Gegner wie voraus zu sehen, noch ehe diese zur Tat wurden und konnte sich so in seiner Gegenwehr rechtzeitig darauf einstellen.
Wie sollte ich also diesem Menschen innere Führung beibringen? Was sein Kampfverhalten betraf, so war ein Eingreifen meinerseits hier unmöglich. Es bestand sogar die Möglichkeit, dass ihm der natürliche Fluss in seinen Kampfbewegungen verloren gehen könnte, wenn ich seine Aufmerksamkeit darauf lenkte.“

Saphira: Damit hat Aristoteles sehr weise gehandelt!

Kretos: Saphira, Du hast mich schon oft mit Deinen plötzlichen Gedankenwendungen in Erstaunen versetzt, aber unter dieser Deiner Bemerkung verschlägt es mir jetzt beinahe die Sprache.
Soweit ich weiss, bist Du Alexander zu Lebzeiten niemals begegnet. Wie kannst du also wissen, dass Aristoteles hier weise gehandelt hat?

Saphira: Nun mein lieber Kretos, als Schreiberin und Buchbinderin bin ich, wie Du weisst, mit Kaufleuten und adeligen Herren über viele Jahre immer wieder auf Reisen gewesen. Mein Vater hatte mir in Athen zwar ein Haus hinterlassen, aber für meinen Lebensunterhalt musste ich schon selber sorgen. Der Beruf des Schreibers und damit verbunden der Gesellschafterin war gut bezahlt und so fehlte es mir nicht an Mitteln für ein Leben in einem gehobenen Lebensstandard. Dass ich mehrere Sprachen fliessend in Wort und Schrift beherrschte, das kam mir noch zusätzlich zu Gute.
Auf einer dieser Reisen war ich vor einigen Jahren für mehrere Wochen im Hause Olympias, der Mutter von Alexander untergebracht. Die alte Dame hatte sich nach der Ermordung ihres Gatten aus den Machtspielen am mazedonischen Königshof zurückgezogen, an der sie, was unter der vorgehalten Hand flüsternd die Runde gemacht hatte, selber nicht ganz unschuldig zu sein schien, hatte sie doch, wie ihr unterstellt wurde, durch ihre intriganten Manieren unter den Aspiranten auf die Nachfolge von König Philipp, dessen Ermordung in einem Schachspiel der Macht gewissermassen mit herauf beschworen.
Ich lernte also Olympias, die eine Freundin meines damaligen Dienstherrn war, während mehrerer Wochen nach und nach näher kennen. Nachdem es sich durch eine vorsichtige Frage von Seiten Olympias ergeben hatte meinerseits kund zu tun, dass ich in frühen Jahren in Eleusis gewesen sei und auch mit Aristoteles Verbindung gehabt hätte, vertraute sie mir schliesslich eines Abends in einem privaten Gespräch an, dass sie ihrerseits vor der Ehe mit Philipp von Mazedonien eine Mysterien Schulung durchlaufen hätte. Sie sei in Samothrake ausgebildet worden und habe später dann noch, als Alexander bereits geboren worden war, ergänzende Unterweisungen durch eine Priesterin aus Ephesus erhalten, die aus der Brandnacht heraus einige heilige Schriften hatte retten können, die sie vor ihrem Tod dann in ihre Obhut übergeben hätte.
Auf ihren Sohn Alexander zu sprechen kommend sagte sie, dass ihr Sohn zweifelsohne von der hohen Sensibilisierung, die sie durch ihre Mysterien Schulung erfahren habe sehr viel in die Wiege gelegt bekommen habe. Diese Dünnhäutigkeit ihres Sohnes als Kind habe in ihrer Ehe mit Philipp auch immer wieder zu grossen Spannungen geführt. Philipp, von seinen Machtambitionen getrieben, nahm den Sohn viel zu früh durch strenge Körperübungen hart heran. Er verlangte von dem zarten Knaben schier Unmögliches, was zu Tobsuchtsanfällen  Alexanders führte, wenn Philipp nur in seine Nähe kam. Alexander konnte sich nach solchen Anfällen, in denen er wie wild um sich schlug, tagelang versteckt halten, ohne dass ihn irgend jemand auffinden konnte. Tauchte er dann wieder auf, so zeigte er deutliche Spuren davon, dass er draussen gelebt und dabei auch bitterlich geweint haben musste.
Welche mütterlichen Gefühle das bei mir auslöste, darüber muss ich wohl keine weiteren Worte verlieren.

Kretos: Durch Deine Worte beginne ich die wenigen Andeutungen von Aristoteles zur Person Olympias in seinem letzten Gespräch mit uns erst wirklich zu verstehen.  Hinter seiner Zurückhaltung dieser Person gegenüber scheint sich mir ein tiefer Respekt zu verbergen. Dass er mit keinem Wort auf die vielen Redereien, die um Olympias herum im Umlauf waren, nicht einmal andeutungsweise Bezug nahm, das erweckt in mir Gedanken, dass Aristoteles hier die Zusammenhänge viel tiefer durchschaut haben könnte.

Saphira: Womit Du recht hast mein lieber Kretos. In dem Gespräch, von dem ich Dir zu erzählen begann und das das einzige bleiben sollte, in dem sich Olympias mir gegenüber während meines gesamten Aufenthaltes in ihrem Hause so offen zeigte, enthüllte sie mir noch einige weitere Zusammenhänge, die mich tief berührten.
Wie eine Rachegöttin sich vor ihren Sohn stellend, habe sie nämlich in einem sehr heftigen Streitgespräch von Philipp verlangt, dass er die Erziehung seines Sohnes jenseits ihrer mütterlichen Obhut Pflichten in fremde Hände geben sollte. Zähneknirschend habe Philipp eingewilligt. Doch ihr Stand Philipp gegenüber habe sich durch seine Bereitschaft dies zu tun zunächst nicht verbessert. Im Gegenteil, ihre Stellung am Hofe verschlechterte sich weiter. Denn, als Philipp bald darauf bemerkte, dass sich sein Sohn in seinen Augen einfach nicht erziehen lassen wollte, dessen Unruhe Ausbrüche und sein Toben sich sogar noch steigerten, wenn es auch Stunden gab, wo er fleissig zu lernen begann, wurde er innerlich seinem Sohn gegenüber untreu, indem er bei Hofe hämische Bemerkungen über seine Schwächlichkeit fallen liess. Dies war natürlich Honig für Mund und Ohr einiger Adeliger, die sofort damit begannen ihre Söhne in den Vordergrund zu schieben.
Philipp, darüber ungemein aufgebracht, berief in einem letzten verzweifelten Versuch, seinen Sohn Alexander doch noch für sich und seine Machtambitionen gewinnen zu können, den besten Erzieher, den er haben konnte an den Hof von Pela. Das kostete ihn eine Menge Geld, denn Aristoteles hatte zu dieser Zeit eigentlich ganz andere Ambitionen für sich und sein weiteres Leben vor Augen, als ein Kind zu erziehen.

Kretos: In der Tat. Dass er diese Aufgabe übernahm, konnten viele seiner Zeitgenossen zunächst nicht verstehen. Später wurde er deswegen aber sogar bewundert, dass er Erzieher eines Welteroberers gewesen sei.
Wie er uns in Euböa sagte, habe er Philipp aus einer tiefen Erschütterung heraus zugesagt, als er Alexander zum ersten Mal begegnet sei und in dessen tiefe Verletzungen ausstrahlende Augen geblickt habe. Da konnte er einfach nicht mehr nein sagen. Auch wenn ihm dabei von allem Anfang an klar war, dass er damit offen für die pro mazedonische Seite Partei ergriff, was die Feindschaft von Demosthenes ihm gegenüber auf einen Siedepunkt zu trieb.

Saphira: Dieses tiefe  Erbarmen mit dem so sehr verletzten Kind, das habe Olympias von Aristoteles Seite her sofort gespürt und sie hätte beinahe jede Fassung verloren und ihn stürmisch umarmt, als er zusagte. Wie sie mir anvertraute, wusste sie, welch hohes Risiko er damit einging. Scheiterte er, so konnte das seinem Ruf hohen Schaden zufügen.
Sie hätte aber sehr bald gesehen, dass im Zuge dieser Entscheidung sich das Verhalten Alexanders zusehend verbesserte. Er wurde ruhiger und ruhiger und lies sich schliesslich auch wieder auf Kampfübungen zu Pferd ein, schien sie von einem bestimmten Augenblick an sogar zu suchen.
Sie liess mich weiter wissen, dass sie die deutlichen Verbesserungen im Verhalten von Alexander in einer relativ kurzen Zeit nach Aufnahme der Erziehungsarbeit durch Aristoteles natürlich sehr neugierig gemacht hätten. So  hätte sie  versucht allen  Handlungswegen von  Aristoteles unscheinbar  zu folgen, um herauszufinden, auf was das wohl zurückzuführen sei, nachdem alle Erzieher vor ihm, was das Verhalten betraf, gescheitert seien. Ihre Erfolge in der Bildungsarbeit von Alexander seien dem zur Folge sehr gering gewesen, was sie aber zu vertuschen wussten, um vor Philipp nicht das Gesicht zu verlieren.
Aus ihrer Sicht sei Alexander einfach nicht aufnahmebereit für beinahe jedwede Bildung ausser Musik gewesen. Allein das Spiel mit der Kithara schien ihn zwischendurch immer wieder einmal zu beruhigen, wenn es auch geschah, dass er so manche Kithara in einem plötzlichen Wutanfall in tausend Stücke zerschlug.
So sehr sie sich aber auch bemühte diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, hätte sie nur feststellen können, dass Aristoteles ihrem Sohn vor dem Schlafen Gehen eine Geschichte zu erzählen schien. Tagsüber sei er häufig auf einer versteckten Bank in den Gärten nahe einer Grotte mit ihm gesessen, habe ihn sanft an den Schultern berührt und ihm dabei etwas zugeflüstert. Näheres konnte sie aber nie in Erfahrung bringen. Ihr Sohn sei nicht zu bewegen gewesen etwas davon preiszugeben.

Kretos: Ich beginne Deine Worte, Aristoteles habe sehr weise gehandelt langsam zu verstehen. Er hat sich offenkundig ganz tief in das Erleben dieses Kindes hinein versetzen können und durch entsprechende erzählerische Inhalte ihm geholfen sich in seinem Innersten selber spüren und dadurch finden zu können. Alexander musste, vom Vertrauen des Aristoteles getragen, nicht mehr explosionsartig in seinen Tobsuchtsanfällen seinen Körper ein Stück weit wie abstreifen. Er lernte durch Aristoteles „das Fürchten zu meistern.“

Saphira: Ja so muss es wohl gewesen sein.
Auf Olympias Seite wuchs neben der Freude um ihren sich offenkundig entwickelnden Sohn bald aber auch die Sorge, er könne in den Machtspielen ihres Mannes schlichtweg verbraten werden. Sie wandte sich deshalb an Philipp, dass ein König auch ein grosser genannt werden könne, wenn er seine Macht auf weniger Land gründete. Entscheidend sei doch wie er regiere und die Menschen dauerhaft für sich gewinne.
Wie sie mir berichtete, sei sie mit dieser Bitte aber auf taube Ohren gestossen und hätte, als Alexander mit 15 Jahren zum stellvertretenden Regenten in Abwesenheit seines Vaters ernannt wurde, sich innerlich verbittert weitgehend vom Leben bei Hofe zurück gezogen.
Da sie aber wusste, dass die Sterne offenkundig Grosses für Alexanders Leben voraus sagten, habe sie sich voller Furcht schliesslich an Aristoteles gewandt und ihn gefragt, wie sie damit umgehen solle.  Er habe ihr geantwortet:
„Was interessieren mich die Sterne. Ich sehe meine Aufgabe allein darin, dass Alexander lernt „sein Leben“ anzunehmen. Alles Übrige würde sich daraus schon in rechter Weise ergeben.“

Und lächelnd hätte er noch hinzu gefügt, sie solle aufhören Furcht zu haben. Alexander hätte einen furchtlosen und vor allem aufrechten Charakter und auf dieser Grundlage würde er jede Gefahr meistern können.

Kretos: Wenn ich mir jetzt das Bewegungsverhalten Alexanders, wie es uns Aristoteles auf Euböa vor Augen geführt hat meinerseits ein weiteres Mal innerlich zur Anschauung bringe, dann trifft die Einschätzung von Aristoteles voll ins Schwarze.
Aristoteles vertraute auf des Leben, das er Alexander gelehrt hatte, anzunehmen und seinen ungewöhnlich wachen Geist. Dieses Vertrauen übertrug er mit seinen Worten gewissermassen auf Olympias, obwohl er zu dieser Zeit noch stark damit rang, wie Alexander noch mehr innere Stabilität entwickeln könne.

Saphira:
Und Olympias hielt sich an die Worte des Aristoteles, dass Alexander mit seinem aufrechten Charakter eine jede Gefahr meistern könne. Sie fand in den Berichten, die nach der Schlacht von Chaironeia über die Heldentaten ihres Sohnes zu ihr drangen, Trost darin, dass Alexander offenkundig von starken Schutzkräften begleitet wurde.

Das führt mich zu den letzten Worten Olympias, die sie mir an diesem denkwürdigen Abend ganz zum Schluss noch anvertraute.
Sie sei eines Nachts gegen ihre Gewohnheit und ohne äusseren Anlass plötzlich aufgewacht, sei im Nachtgewand in ihre Bibliothek gegangen und habe im Dunkeln nach einem Buch gegriffen, von dem sie wusste, dass sie es besass, aber bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gelesen hätte.
Im Licht einer flackernden Kerze schlug sie die Kategorien des Aristoteles auf. Da geschah es. Durch die Seiten des Buches schien sie, wie aus der Zeit gerissen in die Augen des Aristoteles zu schauen, der sie mit einem warmen Lächeln anblickte.  Von dieser Nacht an, hätte sie all ihre Mysterien Erfahrungen verdichtend sich stetig mit der Frage nach der Entwicklung eines Herzdenkens beschäftigt. Was sie gefunden hätte, das verriet sie nicht. Ich aber gab mein Verstehen kund und bewahrte ihre Worte still in meinem Herzen.

Kretos:
... Du bewahrtest Olympias Worte, wenn ich es recht verstehe, vierzehn Jahre still in Deinem Herzen, obwohl sie Dir nichts dazu gesagt hatte, welchen Weg sie von dieser nächtlichen Erfahrung aus gegangen sei? Dann muss an diesem Punkte eures Gespräches unmittelbar etwas, ... etwas euch beide tief Erschütterndes geschehen sein,  ein Durchblick von weitreichender Bedeutung sich eröffnet haben. Ansonsten hättest Du niemals auf dieser Grundlage, äusserlich betrachtet eigentlich wenig aussagefähiger Worte ein Verstehen kundgegeben, das, ich sage das nicht leichthin, mich, der ich damals nicht dabei war, heute leise erzittern lässt.

Saphira: Ja so ist es.
Die Kategorien gehören nun wirklich zu den Werken von Aristoteles, die mehr als sperrig zu lesen sind. Ich habe mich inzwischen beinahe ein Leben lang mit dem Werk des Aristoteles auseinandergesetzt und dabei gelernt, dass er dort, wo er in seinem Sagen sperrig wirkt, dass dort die tiefsten Geheimnisse verborgen liegen. Heute kann ich sagen, dass an diesen Stellen zwischen seinen Worten, gleichsam im Ungesagten weitere Bücher von ihm darauf warten aufgeschlagen zu werden. Der Riegel der vor diesen Büchern liegt ist das Wort des Sokrates:

„Ich weiss, dass ich nicht weiss!“

Dies existentiell einmal erfahren und darüber hinaus sich bereit zu halten es immer tiefer weitere Male neu zu erfahren, das öffnet die Türe zu diesen verborgenen Schätzen. Aristoteles ist für mich nicht nur ein grosser Meister der Mysterien vor dieser Welt, er ist ein noch grösserer Meister im Ablegen von Büchern im Weltenäther.

Kretos: Saphira, Du weisst, dass wir beide in unseren Gesprächen stets die Augenhöhe gepflegt haben, dass nichts von der Überheblichkeit des Mannes, die sich von den Mysterien Schulen heute immer unangenehmer ausbreitet, zwischen uns gelebt hat. Sprüchen, die Frau sei in ihrem Denken zu wenig rational, sie sei in ihrem Denken zu sprunghaft, forteilend ausgerichtet, ist Aristoteles immer unüberhörbar streng entgegen getreten. In Euböa hat er uns dies zuletzt überdeutlich mit folgenden Worten ans Herz gelegt:

„Wenn ihr die Gemeinschaft unter euch Sieben lebendig erhalten wollt, dann achtet darauf, dass das, was die drei Frauen unter euch still in ihren Herzen bewahren durch euer Fragen an die Oberfläche treten kann. Was Frauen still in ihren Herzen tragen, das ist das Nährsalz einer jeden Kultur, das wird euch miteinander zum Aufgang eines erneuerten Mysterien Wesen führen.“

So frage ich Dich heute:

„Saphira, was trägst Du über das Herzdenken still in Deinem Herzen geborgen und was ist in dieser langen Zeit dazu in Dir gereift?" 

Zeitgleich muss ich Dich jedoch auch bitten, diese meine Frage heute noch nicht zu beantworten, da ich ansonsten meinen Bericht über die letzten Worte des Aristoteles an uns nicht zu Ende bringen kann.“

Saphira:
„Kretos, mein Herz hüpft, wenn ich daran denke, was wir in der nächsten Zeit in neuen Dialogen noch miteinander werden bewegen können. Ich kann Dir nicht sagen, wie sehr mich Deine Frage freut.“

Nun aber fahre bitte in Deinem Bericht aus Euböa fort.

Kretos: Wir sind dabei stehen geblieben, dass Du auf die Worte des Aristoteles hin, mit denen er das Bewegungsverhalten Alexanders beschrieb, davon sprachst, Aristoteles habe weise gehandelt hier nicht einzugreifen und Aufmerksamkeit darauf zu lenken.
Aristoteles hat also nicht eingegriffen und seinen Bericht wie folgt fortgesetzt:

„Ich kann nicht verhehlen, dass mich innerlich ein Grauen umwehte, als ich Alexander nach Jahren des innerlichen Ringen mit dessen ungewöhnlichen Kräften, die sehr oft in Richtungen strebten, die mir mehr als bedenklich erschienen, ich diesen allzu jungen Mann aus meinen Händen in seine Aufgabe hinein entlassen musste. Würde mein Bemühen um diesen so jungen Menschen ausreichen, diese schier unmögliche Bürde zu tragen?“

So war dann dieser Abschied auch mehr als denkwürdig. Aristoteles lies nämlich in dieser Stunde all seine Zurückhaltung gegenüber Alexander fallen militärisch strategische Fragen auch nur indirekt anzusprechen. Dieses Gebiet sah er einfach nicht als sein Aufgabenfeld an. In dieser Stunde aber wollte er „seinem König,“ der ihm schon länger innerlich zum Freund geworden war, etwas mitgeben, um das er, wie er sagte, viele Nächte gerungen hatte. Auf ihn zugehend sprach er:

„Alexander, mein Freund, wenn Du in der kommenden Zeit mit Deinem Heer einmal in eine ausweglos erscheinende Lage kommen solltest, so halte Dich an Deine Reiterei. Teile sie in viele kleine Gruppen auf und rüste die vorderen Reihen immer mit persischer Gewandung aus. Lasse Deine Leute die Kampfrufe der Perser auf ihren Hörnern nachahmen und schicke sie in kreisenden Bewegungen in die Kampfreihen Deiner Feinde hinein, mit der strengen Auflage sich nicht auf längere Kampfhandlungen einzulassen. Störe, wo es nur geht durch blitzartige Überraschungsangriffe, gleichsam wie aus dem Hinterhalt ihre auf Dein Heer vorrückenden Aufstellungen. Erzeuge Verwirrung, so viel als nur irgend möglich und ziehe deine Reitertrupps immer dann zurück, wenn der Feind zu beissen anfängt. Reisse auf diese Weise ihre Schlachtordnungen auseinander. Sende von verschiedenen Orten widersprüchliche Nachahmungen von Hornsignalen Deiner Feinde aus und das unweigerlich ausbrechende Chaos wird Dir in die Hände spielen
!“ 
Alexander soll daraufhin, wie Aristoteles uns wissen liess, ihn nur sehr lange und mit unverhohlener grosser Nachdenklichkeit angeschaut haben. Nach einem zeitlosen Augenblick hätten sie sich beide die Hände gereicht und Aristoteles hätte eine in beiden Richtungen verlaufende Kraftübertragung verspürt, die jedes weitere Wort erübrigte.
Jahre später, nach der Schlacht bei Issos, habe er in den frühen Morgenstunden, als in den Strassen Athens noch dämmrige Schläfrigkeit herrschte, durch einen Mazedonischen Eilkurier einen Brief von Alexander erhalten, in dem zu lesen war:

„Mein väterlicher Freund. 

Ich bin dem Tod begegnet und angesichts der ausweglosen Lage bei Issos habe ich mich an zweierlei erinnert, auf das Du mich in Deiner Erziehungs- wie gleicherweise Ausbildungsarbeit hingewiesen hattest.
Das eine war der Satz des Sokrates: 


„Ich weiss, dass ich nicht weiss,“ 

den Du mir sehr häufig dann zusprachst, mich dabei sanft bei meinen Schultern berührend oder mich einfach in Deine Arme nehmend, wenn die innere Unruhe wieder einmal über mich herfiel.“
 

„Das andere waren Deine Abschiedsworte und die besondere Qualität Deines darauf folgenden Händedrucks. Dieser Händedruck liess mich, wie ich heute nach der Schlacht bei Issos nunmehr definitiv weiss, meine Selbstherrschaft über meine Kräfte nachhaltig erringen und halten.
 

Wenn ich seither vor meinen Reitern in neue Kämpfe mit den Persern hinein reite, dann ist es mir, als ob mir aus meinen Schultern tausend Flügel heraus wüchsen. Meine Reiter und ich bilden nicht nur eine verschworene, in jeder Lage für einander treu einstehende Kampfgemeinschaft, ich weiss auch, dass ich, wenn ich in mein Horn zum Angriff blase, die Kräfte, die mich solange willkürlich ergreifen konnten, jetzt innerlich geführt auf sie übertragen kann. Geschieht das, so können wir einen Wirbelwind der Bewegung entfachen, der Unbesiegbarkeit unter allen meinen Soldaten verbreitet.“
 

„In den Stunden des frühen Morgens vor einer neuen Schlacht denke ich regelmässig an jene Drachenreiter Geschichte, die Du mir von meinen Kindheitstagen an bis in die Zeit hinein, da ich schon als stellvertretender Regent meines Vaters Verantwortung zu tragen hatte, des Abends so oft an meinem Bett, bzw. auf einem stillen Abendspaziergang in den Gärten der Grotte von Mieza immer wieder in verschiedenen Varianten erzähltest und von der eine so grosse innere Ruhe ein jedes Mal neu auf mich überging.
In so einer Stunde fühle ich mich als Vorreiter einer zukünftigen Kräftegemeinschaft neuer Drachenreiter und die Aussicht darauf lässt mich mein Schicksal annehmen. Dass dies so sein kann, das verdanke ich Dir und dem durch Deinen Händedruck vermittelten Kräftezusammenschluss zwischen uns beiden.
 

Mögen die Götter Dich beschützen, so wie ich mich seit Deinem Händedruck in unmittelbarem Gewahrsein von den Göttern beschützt erlebe. 

Alexander.“
 

„Ich habe Anweisung gegeben, dass ein mit Deinem persönlichen Siegel versehener Brief oberste Priorität in der Übermittlung an mich erhält. Der mit meinem Brief an Dich ausgeschickte Eilkurier ist von mir persönlich mit dem Auftrag freigestellt, dass er Tag und Nacht bereit zu stehen habe, ganz gleich welche Botschaft Du mir auch immer zukommen lassen willst.“

Nachdem uns Aristoteles diese Worte vermittelt hatte, durchwehte den Raum mit seinem Ausblick auf die Abendsonne, den blühenden Frühherbst Garten und das Meer, das Windharfen Spiel eines Schweigens, das unser aller Körperempfinden, von den Haaren bis in die Zehenspitzen innerlich erschauern lies. Wir schwiegen alle eine sehr lange Zeit.
Unter den Augen des Aristoteles sah ich zwei grosse Tränen der tiefsten Erschütterung glitzern, während er von seiner Liege aus in eine ferne Zukunft zu blicken schien. Zwischen uns aber, die wir unwillkürlich in unserem Bewegen durch den Raum allesamt inne gehalten hatten, entfaltete sich langsam ein für uns alle gleicherweise wahrnehmbares Kräftewirken, das uns für alle zukünftigen Zeiten unverbrüchlich miteinander verband.

Saphira: Dich hörend werde ich innerlich unmittelbar in euren Kreis um Aristoteles versetzt. Ich spüre das Schweigen mit seinen Kräfteschwingungen, das euch umfasste und sehe Aristoteles, leise lächelnd, uns alle mit einer kaum sichtbaren Geste seiner rechten Hand segnen.

Kretos: Saphira, Du warst unter uns, auch wenn Du physisch nicht anwesend sein konntest. Er hat in seinen Worten immer auch wieder Deinen Namen ausdrücklich angesprochen. Wenn er uns mit seinen Augen oft so eigenartig anzuschauen wusste, so schien es mir mehrfach, als ob er, Dich anlächelnd, besonders ansprechen wollte.
Dein Hinweis auf die kleine unscheinbare Geste von Aristoteles, die ich selber erst jetzt durch Deine Augen bewusst mit erfasse, zeigt mir, dass dem so war.

Saphira: Das muss wohl so gewesen sein. Denn, wenn ich mich jetzt zurück besinne, dann sass ich an dem Abend vor Aristoteles Tod auf einer vom allgemeinen Getriebe  etwa abseits gelegenen Steinstufe am Hafen von Alexandria. Mit Blick auf die prachtvoll glühende Abendsonne umfasste mich jene besondere Stille, die ich jetzt erneut erlebend als die gleiche wieder erkenne, die mich vor sieben Monaten aus dem Nichts heraus in Alexandria umwehte. Mein ganzes Leben mit Aristoteles ging mir damals bis in alle Einzelheiten durch den Sinn. In dieser Nacht lag ich wach in meinem Bett und schlief erst, als die Sonne aufging mit einem Lächeln an Aristoteles ein.

Kretos: Das Kräftewirken, das uns mit Aristoteles verbindet, ist schon eine unabweisbare Realität.
Doch lass mich jetzt in meinem Bericht weiterfahren. Nach geraumer Weile hub Aristoteles erneut zu sprechen an, nein, er flüsterte das Folgende in den Raum.

„Heute kann ich sagen, Alexander hat seine Aufgabe erfüllt, er hat den Nachweis erbracht, dass es möglich ist die Drachenkräfte, die in einem jeden Menschen leben, nicht nur innerlich zu bändigen , sondern auch mit einem willensgeführten Denken zu verbinden. Freilich, was Alexander damit „für eine zukünftige Zeit“ anfänglich vollbrachte, das werden die Menschen erst in fernen Tagen, lange nach unserer Zeit verstehen.“

Nach diesen Worten schwieg Aristoteles erneut und in diesem Schweigen entfaltete sich spürbar in einem jeden von uns eine erste Ahnung von dem, was in den kommenden Zeitaltern nicht nur von uns, sondern von allen ernsthaft vorwärts strebenden Menschen zu vollbringen sein würde.

„Wäre Alexander nicht im letzten Jahr gestorben,“ so fuhr Aristoteles schliesslich zu sprechen fort, „er wäre heute hier unter uns an unserer aller Seite, als tatkräftiger Gegenwartszeuge für ein zukünftig zu erneuerndes Mysterien Wesen.“

Saphira: Der Faden der Ariadne ist ausgelegt. Der wachsenden inneren Freiheit eines jeden Menschen ist es zukünftig anheim gestellt diesen Faden aufzunehmen und für sich aufrollend dem inneren Sonnenlicht auf dem tiefsten Grund der Drachenhöhle mutig entgegen zu wandern.

Kretos: Kürzer ist es wohl nicht möglich unser mittlerweile ungewöhnlich lang währenden Dialog zusammen zu fassen.

Lass mich Dir meine Hand reichen, so wie Aristoteles einem jeden von uns mit einem jeweils anders gefärbten Lächeln seine Hand reichte und uns so still innerlich Mut für die kommende Zeit zusprach, ehe er uns an diesem Tag entliess.

Wisse, am Tage nach dieser unserer Zusammenkunft mit Aristoteles fanden wir ihn mit weit geöffneten leuchtenden Augen in seinem Lehnstuhl vor. Er musste kurz vor unserem erneuten Kommen mit der ersten Morgensonne dem grösseren Leben entgegen gegangen sein. ...

Saphira: Ob es wohl irgendwann einmal eine Zeit geben wird, die moderne Drachenreiter hervorbringen wird?

Kretos: Wir können dafür nur durch unser Tun den Weg vorbereiten. Dann mag es sein, dass von vieler Menschen Bemühungen getragen, sich erneut Drachenreiter erheben, um dem Dunkel die Stirn bietend, in ihrem Lichtatem die geläuterten Drachenkräfte als Freiheitskräfte in die Welt hinaus zu tragen.

Saphira: Der frei lassende Weitblick von Aristoteles, das ist es, was ich an ihm im Leben und jetzt über seinen Tod hinaus am meisten bewundere. Darin liegt eine starke Mutkraft geborgen.

Kretos: Verborgen in der Stille!


© Bernhard Albrecht Hartmann, 10.01.2015

Der Anfang dieses Dialogs (Teil 1) ist zu finden unter: https://ich-quelle.blogspot.com/2013/12/unter-der-platane-ein-dialog-uber-die_28.html

Die Fortsetzung desselben (Teil 3) unter: https://ich-quelle.blogspot.com/2017/04/ein-dialog-uber-die-zeiten-hinweg-im.html







Montag, 5. Januar 2015

"Des Werdens Macht"

Liegt nicht dem Sagen eines jeden Menschen unscheinbar ein Werden verborgen mit zu Grunde? Dieses Werdende bleibt allerdings solange ungesehen, wie ich nicht verstehe von meinem Vermeinen über das von einem Du sagend Gesagte innerlich zurück zu treten, ich nicht darauf verzichte es in meine Sichtrichtung umzubiegen und stattdessen mich darum bemühe in eine Haltung der Ehrfurcht vor dem fremden Wollen hinein zu finden.
Diese innere Haltung einem Du gegenüber ist gelebte Freiheit!
Was dieses Werdende braucht ist meine Ehrfurcht, damit es sich weiter entfalten oder überhaupt erst in Gang kommen kann. Was dieses Werdende gerade hinter einem mitunter tief problematischen Sagen braucht ist der Mut und das Vertrauen, dass dieses problematisch Fragwürdige noch in eine ganz andere Richtung hin sich entwickeln oder umkehren kann, als es sich jetzt zeigen mag.
Fremdes Sagen in Achtung des darin zum Ausdruck kommenden Wollens so leben lassen, wie es sich ausdrückt, das erschliesst verborgene Ressourcen möglicher Weiterentwicklung eingeschränkter Blickwinkel. Ich kann nicht erwarten, dass sich der Blickwinkel im Sagen eines Du von sich aus so ohne weiteres verändert, ich kann aber mit meiner Ehrfurcht Fenster öffnen, die ein leises wie gleicherweise nachhaltiges Windharfen Spiel nach sich zieht und auf diesem Wege die Macht des Werdens befreiend, Blickwinkel langsam weitet.

© Bernhard Albrecht, 05.01.2015