Donnerstag, 6. Januar 2022

Mit den Augen des Falken ... (1)

Ein kühner Titel und damit eine Herausforderung zugleich. Eine Herausforderung innere Ausdauer zu entwickeln und zu halten. Denn wer den Falken-Weg geht, der hat sich aufgemacht den Weg des Erwachens zu beschreiten, den Weg des Auge in Auge mit sich ohne Widerrede. Was heisst den vielfältigen Täuschungen, die Dir heute nicht selten im Sekundentakt von aussen wie gleichermassen von innen entgegen treten ohne Umlenkungen jedweder Art zu begegnen. Selbstbegegnung also in fortlaufenden seelischen Beobachtungen nach naturwissenschaftlicher Methode. Selbstbegegnung als Prozess im zeitgemässen Nachgang der Geisteshaltung des Sokrates … des „ich weis, dass ich nicht weis.“

Weis ich, dass ich nicht weis? Wenn ich hier bemüht ehrlich innehalte, dann irritiert mich diese Frage. Pointierter ausgedrückt muss sie mich im Rahmen eines echten Erkundungsversuches in dieser Richtung geradezu bestürzen, denn was mir in diesem Falle bis anhin als sicher in und durch mein Denken galt, das fängt innerlich dann zumindest für einen kurzen Augenblick zu wackeln an. Stürze ich Sie werte Leser damit in einen endlosen Regress des Zweifelns? Nein, ich lasse Sie hier wie bisher in meinen vorausgehenden Blog Beiträgen nur an meinen „inneren Bewegungen“ des Denkens teilhaben. Doch um von der Seite des eigenen inneren Erfahren mich den Tatsachen gemäss den Gegebenheiten rund um das Denken nähern zu können muss ich den Bogen der Beobachtungsbereitschaft sogleich noch ein wenig mehr spannen, indem ich ihnen kurzerhand zumute dieses ins Auge zu fassen. Denken wir überhaupt, wenn wir vermeinen zu denken? Denken wir „wirklich?“ 

Wirklich? Was heisst wirklich denken? Wenn ich mich genau besinne, dann habe ich bestenfalls eine diffuse Vorstellung davon weil ich mir diese Frage bisher noch nicht ernsthaft, also mit letzter Konsequenz bis an die Grenze dessen, dass „ich weis“ dass ich „nicht“ weis innerlich vor Augen gerückt habe. Was Denken ist, das versinkt für mich, ohne Selbstverblendung angeschaut, schlichtweg im Dunklen. Auch die diffizil durch deklinierte analytische Betrachtungsweise auf das Denken hin hat genauer besehen allein dessen verstandesmässig abstrakten Aspekt in die Sichtbarkeit gerückt. Eine erfahrungsbasierte Betrachtung auf das Denken hat Kant damit nicht eröffnet. Das mögliche bewusste Durchdringen des Denkens verblieb in der Formel des „Ding an sich“ wie in sich zurückgehalten.

Warum? Kant hat in seiner Forderung alle Weltzusammenhänge auf Erfahrung hin zu durchdringen und dabei das Denken, je tiefer er es gedankenmässig in seinen vielfältigen Gedanken Bezügen durchdrang wie vergegenständlicht. Verblieben sind als Ergebnis seiner analytisch kritischen Versuche das Denken erfahrungsmässig aufzuhellen am Ende schattenhaft abstrakte, leblose Gedankengebilde. Doch wir täten Kant mehr als unrecht, wenn wir es bei diesem Ergebnis belassen würden. Seine Bedeutung liegt aus meiner Sicht, soweit ich sein geistiges Schaffen überschaue jenseits seiner eigentlichen wissenschaftstheoretischen philosophischen Denkansätze und der technokratisch materialistischen Denk- und handlungsgeleiteten Verfahrensweisen, die ganz wesentlich aus seiner analytischen Philosophie hervorgegangen sind.

Es ist dies die besondere Art des Selbstbewusstsein, das sich als Folge seines abstrahierenden Umgangs mit dem Denken heraus gebildet hat. Dieses wird in der weiteren Entwicklung seither mehr und mehr zum Dreh- und Angelpunkt menschlichen Ausdrucksverlangens durch alle Gesellschaftsschichten hindurch. Immer deutlicher werden in den Auswirkungen des kantischen Denkens alles denken zu können aber auch die Folgen der Teilhabe an seinem abstrakten Freiheitsbegriff. Nämlich:„Wenn >Du< denkst >Du< denkst, dann denkst >Du< nur >Du< denkst, denn das Denken der Gedanken ist gedankenloses Denken. Wenn >Du< denkst >Du< denkst, dann denkst >Du< nur >Du< denkst.“ Das gewonnene Selbstbewusstsein wird innerhalb seiner Tatsachenweit immer unübersehbarer von allen Seiten herausgefordert in die Selbstverantwortung einzutreten.

Mit dem Selbst-Bewusstsein, dem Bewusstsein >Deiner< selbst, dem Erkenne Dich Selbst, zu dem Kant - so Du ihm innerlich bis an die Grenze des „ ich weis, dass ich nicht weis“ folgen willst,  das er durch seine abstrakte philosophischen Analysen eigentlich hintergründig aufdeckt - wenn Du ihm bis dahin folgen kannst, also >Dein< Selbstbewusstsein innerlich so glasklar, was heisst fortlaufend von jedweder Art Anhaften zu schleifen bereit bist, betrittst Du den Falken-Weg, den Weg der im Leben sich verankernden Freiheitsphilosophie. Du generierst Dich selbst durch das sogenannte Ding an sich hindurch als beständig sich in Bewegung haltender und selbst zu initialisierender Ich-Quell ins Leben hinein. Nur so macht die Behauptung Kants Sinn, dass mit seiner Philosophie der Anfang der Philosophie schlechthin gesetzt sei.

Selbstbewusstsein als Alpha und Omega der Entscheidungen, Deiner Entscheidungen zum Leben hin: Machen wir uns nichts vor die Analysen des Denkens mit dem wir es tagtäglich in unserem Alltag zu tun haben sind zumeist mehr als uns lieb ist Selbstzüchtungen eigenen Vermeinen über dies oder jenes, was wir von unserer Seite aus in dieses Denken unversehens hineinlegen als Tatsachen gerechtes Ausloten und Erfassen dessen was der Zuträger dieser Gedanken uns eigentlich in diesen vermitteln wollte. Die Diskrepanz zwischen dem Denken, das an uns herantritt und dem Verstehen, das wir diesem über die eigene bereitgestellte Resonanztiefe willens sind  angedeihen zu lassen ist unser tagtäglich Brot, das zu verdauen für uns die Aufgabe ist im Sinne der praktischen Vollendung der analytischen Philosophie - demütig. Versäumen wir es nicht uns zur rechten Zeit hier immer wieder jene Zeit zu geben um uns in so etwas wie einen schwarzen Umhang zu hüllen und alle Resonanzschichten, die diese Art des Denkens in uns hervorgerufen hat still auszuloten. So wie der Falke, der des nachts stundenlang auf einem Baum sitzend verweilen kann und alle Klänge der Nacht durch sich hindurchziehen lässt. Erst wenn sich im Zuge eines derartigen Bemühens in mir kein Widerspruch mehr regt, dann stehe ich an der Pforte dessen was es zu verstehen gilt. Dann regt sich aus meinen Seelentiefen heraus Geist-Erinnern und mein Selbstbewusstsein kann mir als ungetrübter Resonanzkörper echtes Verstehen vermitteln.

Doch was hat das rechte Verstehen mit Geist-Erinnern zu tun? Machen wir uns nichts vor, in den Denkabläufen die von je anderer Seite an uns herantreten, also auch meine Denkabläufe hier in diesem besonderen Augenblick, die ich Ihnen zumute, sie führen nur zu dem einen Ziele sich erinnernd ihrer selbst gegenwärtig zu werden - hier und jetzt. Zumindest dann, wenn sie diese nicht vor sich selbst in der einen oder anderen Art abwiegeln um sich möglichst schnell von Dannen schleichen zu können. Denken ist eben alles andere als eine leichte Sache und manchmal wirst Du dabei mit Denkbewegungen konfrontiert, die sich als nicht so leicht zu verdauen darstellen weil sie dein kunstvoll gestricktes Maskendasein bis in seine Grundfesten hinein erschüttern und ins Wanken bringen. Du weist in solchen Augenblicken unmittelbar, Du kannst das Spiel gegen Dich selbst nicht weiter so fortsetzen. Du kannst nur der werden zu dem Du im innersten veranlagt Dich selbst bestimmst.

Den Falken-Weg zu gehen bedeutet dabei stets bereit zu sein seinen äusseren Lebensweg durch das Innere leere Bewusstsein zu nehmen. Und wundern sie sich nicht wenn ich hier eine Bezugsbrücke zum Bergsteigen, genauer zur anspruchsvollen Kletterei daselbst schlage. Das macht den guten Kletterer nämlich erst zu einem exzellenten Kletterer, so er in allem was er tut, ob im Anstieg zu Kletterwand oder mitten in ihr hängend ruhig Ausschau hält nach dem nächst möglichen Griff oder Tritt auf seinem weiteren Weg, er also ganz in der Bewegung schwingt, die ihn bergan führt. In Bewegung trägt ihn der Augenblick, der ihm alles an Ausdauer und Mut zur Entscheidung im unwegsamen Gelände abfordert, der Augenblick wo Bewegung in leeres Bewusstsein übergeht und leeres Bewusstsein zur tragenden Kraft wird, zur Kraft die ihn nicht abstürzen lässt. 

In einer ganz ähnlichen Verfassung befindet sich der Falke, wenn er des nachts scheinbar bewegungslos in der Spitze eines Baumes sitzt, bewegt in Bewegung die ganze Fülle der Bewegungen dieser Nacht durch sein Federkleid hindurch filtert - auf den einen Augenblick der Entscheidung hin, der ihn seine Flügel spreizen und im Sturzflug das Lied der Freiheit anstimmen lässt. Der Falke - der Wächter der Freiheit Willigen. Lassen wir uns nicht täuschen, in einer Welt  in der das Leben des Falken verfügbar gemacht wird für spektakuläre Falken Schauen, der Falke lässt auch hier nicht über sich verfügen. Er geht weiter seiner Aufgabe nach die Freiheit Fähigen zu suchen und zu ermutigen. So wie es einer jungen Touristin vor einiger Zeit bei einer gross ausgelegten Falken-Schau in Dubai geschah, in der ein Falke unerwartet von seinem Sitzplatz aufflog, um im Tiefflug an einer Reihe von Zuschauern entlang zu gleiten und sich auf der Schulter dieser jungen Frau niederzulassen. Wie sie später erzählte, hatte er schon eine ganze Weile vorher in ihre Richtung geschaut.

Der Falke lässt sich nicht täuschen, er wählt seinen Menschen, den Menschen, der hindurchgegangen ist durch leeres Bewusstsein und diesem Erfahren standgehalten hat.


Bernhard Albrecht Hartmann