Donnerstag, 13. September 2018

Die Frage nach dem wirklichen Ich - 2.Teil

„Bedeutet „Wissenschaft“ das System der Begriffe, die von einem obersten Begriff (etwa „Gott“) zusammengefasst werden, so bedeutet das historische Auftreten des wirklichen Ich für die „Wissenschaft“ die Notwendigkeit, das System der Begriffe zu verwandeln in ein System der Iche.“ (Karl Ballmer) (1)

Vor dem Hintergrund dieser Aussage von Karl Ballmer will ich meinen vorangegangenen Ausführungen zu diesem Thema eine Fortsetzung folgen lassen. Dabei sind drei Aussageelemente zu untersuchen ohne dabei auf eine abschliessende Klärung hinzielen zu wollen. Untereinander besteht zwischen diesen drei Elementen nämlich ein Zusammenhang, der auf Entwicklungslinien hinweist, die wiederum in sich so dynamisch sind, dass ihnen nur nach und nach forschend in geeigneten Beschreibungen näher getreten werden kann. Diese drei zu betrachtenden Elemente sind:
1. Unter welchem obersten Begriff müsste heute das System der Begriffe                           
    zusammengefasst werden?
2. Was ist unter dem historischen Auftreten des wirklichen Ich zu verstehen?
3. Inwiefern könnte es notwendig sein das System der Begriffe in ein System der Iche zu verwandeln? 
Die Frage ist nicht so ganz einfach zu beantworten, denn welchem obersten Begriff könnte die Wissenschaft heute angesichts der Öffnung des Denkens nach allen Seiten hin noch für das System der Begriffe zu einer verbindlichen Anerkennung verhelfen. Die weltanschaulich religiösen Bünde auf der ganzen Welt verfügen nicht mehr über eine Autorität, die sie in die Lage versetzte einen derartigen Begriff durch und durch authentisch vertreten zu können. Der Begriff „Gott“ scheidet also aus. Nicht ganz ohne jeden Grund scheint Karl Ballmer bereits vor ca. 80 Jahren diesen Begriff in Klammern gesetzt zu haben - mit einem indirekten leisen Fragen?

Nun Ballmer hat seine Fragen im Hinblick auf die Hierarchie der Begriffe, er hat sie seit seiner Begegnung mit Rudolf Steiner und er ringt von daher damit, was Erkennen sei. Ein selbständiger Denker eben, ohne jedwede Tendenz zur Überhöhung der oder Anhaftung an eine sogenannte Meistergestalt. Nach innen wie nach aussen durch und durch kritisch - selbstkritisch ausgerichtet. Eine Haltung, die in der Nachfolge dieser Persönlichkeit innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft und ihren Untergruppen alles andere als selbstverständlich war und ist.

Sich derartig selbständig in eine geistige Nachfolge hineinzustellen macht ihn, mit Verlaub gesagt, zu einer „Marke“ unter vielen, die Rudolf Steiner (möglicherweise unbemerkt) nur als Schild vor sich hertragen. Er „lebt“ das womit er diesbezüglich ringt durch alle Höhen und Tiefen hindurch und so kann sein künstlerisches Werk als ein Weg innerer Wandlungen gelesen werden. Unbequem für so manche seiner Zeitgenossen, aber ganz im Sinne Rudolf Steiners, wonach Anthroposophie Leben „von innen heraus“ werden will.

Bewegung von innen heraus. Das verlangt ein Ausbremsen, ein Zurücknehmen und Verwandeln von Vorstellungen, die innerlich unbeobachtet schnell geneigt sind sich über Fliessgründe des Erfahrens zu legen und diese in eine Erstarrung der Abstraktion hineinzutreiben. Bewegung … von innen also. Was ist das? Und … von wo genau geht diese Bewegung aus. Was ist ihr Ort, von dem aus sie bewegt sich in Bewegung setzt? In Bewegung gesetzt wird? In Bewegung gesetzt von wem? Wer setzt hier von wo, von welchem Ort aus in Bewegung? Ort? Ein Punkt wo? Ort … ein Punkt im Raum? Raum, Innenraum; Raum, in dem Bewegung generiert wird?

Raum, was ist das? Ist Raum für mich eine reale innere Erfahrung? Na klar, … wirklich? Oder nur Vorstellung. Oben unten rechts links vorne hinten zusammengefasst … ja zusammengefasst und bis zum geht nicht mehr in den verschiedensten Konstellationen wiederholend gebraucht ergeben eine Vorstellung von Raum. Wieviel von dieser Vorstellung ist aber für mich wirklich erfahrungsbasiert? 

Raum, Ort erfahrungsbasiert? Jetzt wird es, so ich bemüht bin hier weiter selbstkritisch vorzugehen, jetzt weht mich etwas an, von dem her sich mir der Eindruck vermittelt der Boden auf dem ich stehe kann Dir nicht mehr als gesichert gelten. Das sogenannte „überkommene“ Raumempfinden wirkt verstörend auf Dich zurück. Rechts links oben unten … geben keinen sicheren Halt mehr. Der Boden fest gefügter Vorstellungen von dem was ist … oder sollte ich besser sagen von dem, was meine Vorstellung von Wirklichkeit war fängt ganz leise zu schwanken an. Raum ist … wird mir, wenn ich den inneren Wegen des Erfahrens hier weiter folge zu einem fliessenden Etwas. Ein Etwas?

Bevor ich hier jedoch weiter zu gehen versuche will ich den bisher eingenommenen Blickwinkel noch  für einen kurzen Moment etwas erweitern. Erweitern dahingehend, dass ich Sie werte Leser auffordere sich Vorstellungen ihrer Wahl, die Sie durch ihr Leben begleiten nur für einen Augenblick ein klein wenig näher unter die Lupe nehmen. Vorstellungen z.B. über einen Menschen, der unmittelbar neben ihnen lebt, bzw. mit dem Sie Tag für Tag an ihrer Arbeitsstelle zu tun haben. Was wissen Sie tiefer betrachtet … wirklich über diesen Menschen?

Wenn Ihnen heute etwas an diesem Menschen auffällt, was sie gestern an ihm noch nicht bemerken konnten, wenn sie ein stets neues Interesse für diesen Menschen in sich wach halten können, seinen Lebensbewegungen über Alltagsgewohnheiten hinaus folgen, kurz, ein Rätselhaftes von ihm ausgehend immer wieder einmal zu entdecken vermögen, dann lebt aus meiner Sicht in Ihnen ein offener Fragegeist und nicht so sehr das heute so verbreitete Infrage- Stellen, der schnell das eigene Denken in Beschlag nehmende Vorbehalt gegenüber diesem oder jenem … oder die Trägheit des Gewohnten.

Wer nicht oder zu wenig kleine oder grosse Begebenheiten seines Alltags fragend zu begleiten weiss, der kann auch nicht jenen Fliessgrund des Erfahrens in sich öffnen von dem ich oben sprach. Begriffe tragen vielschichtig fliessend zu Erfahrendes in und mit sich. Sie … sind der Quellgrund des Lebens. Bewegung, die ich, die Sie bereit sind zu induzieren öffnen … Tore in Neulande hinein. Die Lemniskate umschliesst, fasst alle Begriffe in einer unendlichen, in einer stets neuen, frei induzierten Bewegung in sich.

In der Hierarchie der Begriffe steht die Bewegung heute an oberster Stelle, weil der Wille im Denken erneut erwacht. Der Wille, der nach Aristoteles vom Denken niemals hätte getrennt werden dürfen. In der geübten seelischen Beobachtung gewinnt er an Kraft und sprengt die Abstraktionen im Denken. Das Gott-Siegel ist gebrochen.

© Bernhard Albrecht Hartmann, 13.09.2018

(1)   Karl Ballmer - Kopf und Herz, Verlag Scheidegger und Spiess AG Zürich 2016,
        daselbst: Ballmers ursprüngliche Einsicht von Ulrich Kaiser S.136