Dienstag, 23. Februar 2021

Aufrecht stehen im N ich ts - 2

Der ein oder andere Leser des 1.Teils dieses Essays wird wohl einiges auf mein Sagen  einzuwenden gehabt haben. Nun der Einwände viele habe ich mir vorauseilend selber gemacht - ohne sie dann aber im Schreiben auch nur zu berühren. Denn im Schreiben über das Nichts geht es nicht um eine quasi lückenlose Argumentationskette bezogen auf die inhaltliche Seite des Problems. Das Nichts hat nämlich kurz und bündig gesagt keinen Inhalt, auch dann nicht, wenn eine abstrakte Denkweise ihm einen solchen gerne zuschreiben möchte, weil der Umgang mit einem theoretisch angenommenen Nichts doch schon ein Inhalt sei.

Wohlgemerkt eine Annahme, aber kein Inhalt. Eine Problem-Fokussierung mit Absichtscharakter  ohne Aussage Substanz. Warum? Weil der Annahme keine Erfahrung zu Grunde gelegt ist. Spätestens seit Kant ist in der Wissenschaft jedoch alles auf Erfahrung hin zu orientieren. Erfahrung gewissermassen als eine objektive Prüfschablone. Die Prozesswege des Denkens hat Kant hierbei allerdings nicht einem fragend zu ergründenden Erfahren unterzogen. Wie seine transzendentale Philosophie zeigt hat er das Denken vielmehr mit einem dem Anschein nach undurchdringlich erscheinendem Schleier der Abstraktion umhüllt. Und eben das ist bis heute „das“ Problem. Aus der Sicht von Kant her betrachtet aber war es notwendig, um dem Subjektivismus nicht Tür und Tor zu öffnen. Es schien ihm offenbar ein Anliegen zu sein die innere Unabhängigkeit des Denken Könnens zu wahren. Deshalb schuf er mit seinem Verweis auf das „Ding an sich“ die abstrakte Denksignatur schlechthin, eine Art Observatorium, von dem aus die zu erfahrenden Erscheinungen dieser Welt in abstrakten Gedanken allgemein verstehbar gemacht werden könnten.

Von heute her ist zu fragen, kann und darf angesichts des verdeckten Erklärungsnotstandes der Wissenschaft heute noch an dieser Position von Kant in gleicher Weise wie dazumal festgehalten werden? Hat sich das Denken durch die von Kant her angewandte Abstraktionskur insofern weiter entwickeln können, dass seinen Befürchtungen nicht mehr in gleicher Weise Rechnung getragen werden müsste wie dazumal? Angesichts eines um sich greifenden Hashtag Verhaltens in Social Media Räumen, wie auch verschleiert immer hemmungsloser vorgebrachter und z.B. hinter Datenverordnungen versteckter so genannter unabweisbarer Interessen gäbe es einigen Grund daran zu zweifeln. Es besteht anscheinend immer weniger eine Hemmung sein Sagen einzudämmen. Alles scheint gesagt werden zu dürfen, ob daraus bei den Empfängern Verletzungen oder gar Einschränkungen in ihrer Freiheit resultieren oder nicht. Auch die qualitative Rückbindung an den Wahrheitsgehalt des Gesagten scheint an Bedeutung einzubüssen. Kurz gesagt: Weil ich das so sehe, darum ist es auch so.

Was in meinen Augen bei dieser Vorgehensweise allerdings übersehen wird ist dieses. Der so Denkende sieht sich selbst innerhalb dieser Vorgehensweise in der Position des „Berechtigten Gegenüber.“ Er stellt diese Position vor sich selbst nicht in Frage. Gefangen in abstrakten Argumentationsketten ist ihm die Wirkung, die er durch sein Vorgehen auf andere Menschen ausübt anscheinend aus dem Blick geraten. Dass die Ego Sicht auf die Sinnfelder seines Lebensumfeldes die individuellen Freiheitswege anderer Menschen blockieren könnte wird mit einem so genannten sachlichen Interesse einfach überblendet und damit als nicht relevant im Schattenbereich der eigenen Anschauung entsorgt. Die Abstraktion im Hochtouren-Modus. 

Es mag irritieren wenn ich hier die Frage einflechte, was haben in dieser Weise  scheinbar sachlich aneinander gereihte Gedankenketten noch mit Denken zu tun? Noch pointierter gefragt, kann ein Ego geleitetes Denken überhaupt allseitige Sachlichkeit gewährleisten oder verschleiert es hinter mächtigen Ego Schranken nur einen letztlich hemmungslosen Subjektivismus der Macht, bzw. entfesselter Willenskonvulsionen? Ist also die von Kant favorisierte abstrakte Denkweise verdeckt zu einem fragwürdigeren Subjektivismus verkommen, als dem welchen er ursprünglich eigentlich verhindern wollte? 

Doch versuchen wir noch einen Schritt weiter zu gehen und dem Problem, das sich durch das abstrakte Denken anscheinend eingestellt hat näher zu treten. Öffnen wir unsere Sicht durch tiefer greifendes Fragen also noch mehr auf den Grund hin. Wagen wir es Fragen zu stellen angesichts der Aussage des Sokrates: „Ich weis, dass ich nicht weis“ Gehen wir mutig hinein in diese Sphäre des „ich weis, dass ich nicht weis.“ Halten wir uns innerlich die Möglichkeit offen, dass aus dieser Art des Bemühens uns gleichsam Antworten zuwachsen können. Denn es geht hier um das konkrete und praktische innere Erfahren, um das Erfahren als dynamischen Prozess, das Kant seinerzeit aussen vor gelassen hat. Es geht um einen qualitativen Zugang zum Denken im eigenen Erfahren. Einen subjektfreien Zugang. Gibt es von daher also eine Beziehung zwischen Ego und Nichts? Was soll denn das, höre ich sogleich murmeln. Deshalb noch einmal nachgefragt, welche bisher nicht beachtete Verbindung könnte zwischen dem Ego und dem Nichts bestehen? 

Heisst das nicht, dass wir aufgerufen sind ein-zu-sehen und zu verstehen, wie das Ego mit seinen Dynamiken in einer Selbsterkenntnis Bemühung beobachtbar ist? Das Ego mit seinen Prozessgebärden Selbstbild und Illusion - verbunden mit seinen individuellen Fragen im inneren Erfahren in der eigenen Lebenswanderschaft? Was heissen würde, sich absetzen von einem mitunter blindwütigen Verhalten des Übertragens eigener Fehlleistungen auf andere Menschen ohne nach innen hin auch nur mit den Augen zu zucken. Eine Verirrung des abstrakten Denkens, das die Verbindung zur Prozesserfahrung des eigenen Denkens verloren hat, den Peripathetos, wie ihn Aristoteles einst vermittelte nicht mehr zu handhaben weis. Doch ohne ein sich Einstellen-Können auf zahlreiche innere Erschütterungen im forschenden Umgang mit dem eigenen abstrakten Denken,  nicht nur im wissenschaftlichen Raum, sondern gerade auch im praktischen Alltag und nicht weniger innerhalb von spirituellen Übungsbemühungen wird sich das Tor zum Nichts nicht öffnen lassen, wird sich die voll umfänglich bewusste Einheitserfahrung von Sein und Leben nicht zeitgemäss einstellen können. 

Etwas genauer besehen lassen sich in der Gestaltung des Ego zwei Grund-Dynamiken ausmachen. Dies ist einmal die Tendenz zur Stauung oder auch Selbsterhaltung um jeden Preis. Zum anderen die der Bewegung über sich hinaus. In Letzterer ist eine Besonderheit herauszuheben. Nämlich die einer beständigen Veränderung, die am Ende sich aber als keine wirkliche Veränderung herausstellt, sondern lediglich als Stillstand im dennoch gleichen Kleide. Das Ego ist nämlich ein hochkarätiger innerer Verwandlungskünstler und von daher als Meister der Selbsttäuschung oder anders gesagt Jongleur mit farbenfrohen Illusionsgebilden der Sonderklasse - mithin als Zauberkünstler in der Selbstinszenierung zu beschreiben. Und dieses Geschehen stellt sich fort und fort neu so formvollendet dar, dass der sich so Bezaubernde am Ende sich nicht anders als in seiner Grossartigkeit bewundern kann, ernsthafte Abstriche in Form von Selbstkritik ausschliessend. 

In den Tiefen des Ego ist aber noch eine andere Bewegung auszumachen, ein Inkarnations-Prozess der tatsächlichen Selbsterneuerung, so zart, dass er anfänglich unbemerkt bleiben kann. So unbemerkt, dass mancher Ego-Träger sein Ego sogar für sein Ich hält. Wo aber Selbstillusionen dauerhaft den Platz besetzen kann kein kraftvolles Ich in Erscheinung treten, denn das Ich braucht die dekomponierte Selbstillusionen als Dünger für sein verstärktes Wachsen. Das Ich wächst also auf dem Boden der kritischen Auseinandersetzung mit seinen Illusionen. Und der beste Weg hier nachhaltig auf Wachstumskurs zu gelangen ist der Weg des respektvollen Dialogs über Gegensätze hinweg. Das Ich gedeiht in der selbstkritisch gefärbten Bewegung im Umgang mit Illusionen jeglicher Art. Und wie sehr das Ego sich darstellen kann als eine Illusionsschleuder schier ohne Ende, das tritt erst dann in den Blick, wenn Du beginnst im Umfeld einer Deiner Illusionen in die Tiefe und in die Breite zu graben. Vorstellungen über dies und das in unserer Alltagszeit sind hier weit mehr die Ankerketten von Illusionen als wir es gemeinhin für möglich halten. Vorstellungen vor allem dann, wenn sie sich bei näherem Hinsehen als „alteingesessen“ herausstellen.  

Wenn ich hingegen in einem echten Dialog mich wirklich öffne für den anderen Menschen, dann muss ich fortlaufend meine Vorstellungsbildung anpassen, so vielfarbig stellt sich dieser Mensch im Laufe eines Dialogs und noch mehr von Dialog zu Dialog über einen längeren Zeitraum hin dar. Ohne präsent zu werden „auf das andere hin,“ das aus diesem Menschen in meinem Erfahren in Wort, Ton und Körpergestus spricht ist ein echter Dialog nicht möglich. Gelingt dies nicht dialogisiere ich mehr mit meinen abgelagerten Vorstellungen als mit dem anderen Menschen. 

Ich muss also eine sehr starke Bewegung aufbauen und mich in ihr halten. Und in dieser Bewegung lerne ich von einem „ich weis, dass ich nicht weis“ zum nächsten zu tanzen. Ich werde mit einiger Übung heimisch in dieser Bewegung und verschmelze mit dem Erzeuger dieser Bewegung. Ich gehe aufrecht durch das  Nichts. Das  N  ich  ts verschwindet in der Bewegung. Diese Bewegung aber ist subjektfrei, weil sie nicht durch das Ego geleitet, sondern vom Ich her geführt wird.

© Bernhard Albrecht Hartmann, 23.02.2021