Montag, 2. November 2020

Die noch offene Frage Karl Ballmers Teil 2

Was heisst das nun ein hervorbringendes Denken in Vielfarbigkeit zum Ausdruck zu bringen? Wie kann so etwas von Statten gehen ohne dabei dem Subjektiven zu verfallen? Ist es möglich dieser Gefahrenquelle zu entgehen? Um hier auch nur ein wenig Klarheit zu schaffen sind individuell jeweils nicht gerade wenige Fragen tiefer zu erwägen und in inneren Anschauungsprozessen einer schrittweisen Klärung zuzuführen. Sprechen wir also, wie hier mehrfach betont, von einem hervorbringenden Denken, d.h. von einem Wirklichkeit schaffenden Denken, so blicken wir dabei auf die Bewegung im Denken.

Bewegung im Denken: Bewegung ist wiederum an den Willen gebunden. Über den Willen jedoch nicht nur abstrakt zu reflektieren, sondern seiner im beobachtenden Erfahren inne zu werden, das ist eine Sache für sich und alles andere als einfach. Im Zuge eher allgemeiner Gepflogenheiten zu denken bedeutet das, dass sich bildhaft gesprochen, die Begriffe zumeist wie beiläufig in ihrer jeweiligen Ordnung auf einer gleichsam inneren Leine aneinander reihen und damit ihre Aussage dokumentieren. Das Bewusstsein für ihre Ordnung orientiert sich dabei grösstenteils an unterschwelligen Vorstellungsstrukturen, die gleichsam wie unscheinbare Schleier über das geworfen werden, was unbewusst als die Wirklichkeit angesehen wird.

So gesehen geht der gängige Begriff von Wirklichkeit auf eingeübte und von daher tradierte Vorstellungskonstrukte zurück. Vorstellungskonstrukte oder auch Standpunkte eines Verstandes der, wie es das Wort „Verstand“ nahe legt, primär aus dem Stand, bzw. aus der Gebundenheit an Gewohntes, an das, was als gesichert angesehen wird oder bündig gesagt aus einer beliebigen Ego Haltung heraus urteilt.

Den Verstand so eng an das Ego zu koppeln wird nicht allen Lesern hier gefallen. Und doch ist es sinnvoll dies einmal unter Einbindung der Klarheit des Verstandes versuchsweise zuzulassen. Sich also die Grundfähigkeit des Verstandes nutzend, im Beobachten wie über die Schulter zu schauen und dabei zu bemerken, dass das Ego sich wie ein Bremsklotz verhalten kann, um auf diese Weise zu verhindern in eine fragende Offenheit hinaus zu schreiten. Oder anders ausgesprochen Sokrates in seinem „ich weis, dass ich nicht weis“ im eigenen inneren Erfahren das Erkunden auf mögliche Neulande für ein vertieftes eigenes Erfahren eigentätiger Wirklichkeitsbildungen mutig zu gewähren. Mithin denkend im je einzelnen Falle die jeweils sich gerne verborgen haltenden Bezugspunkte des Ego zu identifizieren, um so in eine echte vorwärts schreitende Bewegung zu gelangen, bzw. noch tiefer gegriffen das Denken wenigstens in einem ersten Ansatz als hervorbringende Kraft in Tateinheit zu erfahren.

Bewegung im Denken: Eine zweite Annäherung. Ich kann es nicht verschweigen, dass ein jeder Versuch sich Aufschluss über die Bewegung im Denken zu verschaffen von einer Vielheit Ego geleiteter Kräfte sogleich unterwandert wird, um dieses Bemühen auf jede nur denkbare Weise zu torpedieren. Nicht umsonst hat Rudolf Steiner so nachdrücklich darauf hingewiesen, dass alle Vorstellungen verbrannt werden müssten. Denn Vorstellungen wirken wie Sperrriegel gegenüber der Realität des Geistes, wie sie über die Bewegung des Denkens schrittweise erfahren werden kann. Die Bewegung schafft die dynamische Basis, dass sich tiefere Schichten eines geistigen Erfahren enthüllen können.

Die Strenge mit der ich das nunmehr zu sagende ausdrücken muss, erschüttert mich im Augenblick, da ich diesem Sagen innerlich voraus greife, selbst. Wer sich nicht bewegt von Augenblick zu Augenblick, der ist schon tot bevor er stirbt.
 
Die Möglichkeiten zu neuen Horizonten, was ein geistiges Anschauen über abstrakte (nicht nur wissenschaftliche, sondern auch spirituelle Positionen hinaus) betrifft stehen geradezu stürmisch allerorten vor den Türen. Ein Strukturwandel im Wirklichkeit Verstehen bezogen auf sich selbst, wie im gesellschaftlichen Umgang untereinander mit seinen gesamthaft so differenziert vielfarbigen sozialen Lebensäusserungen ist mit grossem Ernst an die Hand zu nehmen. Warten auf Anweisungen von wem auch immer verstärkt nur die allseitig schwärenden Angsttriften um mich herum. Ich, ein jeder kann hier nur seinen ganz eigenen Neubeginn starten. Tätige Offenheit im Kleinen und nicht angstvolles sich Verkriechen unter Schutzschirmen welcher Art auch immer sind gefragt.

Corona ist als ein Schuss unmittelbar vor den Bug zu sehen. Und das bedeutet? Wie weit bin ich bereit mein Denken grundlegend neu zu konfigurieren, was heisst auf eigene Füsse zu stellen. Ich sagte es ja schon, die Wirklichkeit schaffende Dimension in meinem eigenen Denken zu verankern und tätig zu entwickeln. Wie kann das aber gehen ohne von allem Anfang an in die oben bereits angedeutete Ego Falle wie blind hineinzulaufen? Tun wir das nicht alle öfter ohne uns das einzugestehen? Das Ego stellt sich nämlich nicht nur als verborgen gehaltene Dimension eigenen Machtwillens, sondern auch als willkommenes Ruhekissen dar. Es ist kurz zusammengefasst gesagt eine für Niemanden zu umgehende Grösse in der heutigen Zeit und kann nicht vermieden, sondern nur aufgelöst werden. Und zwar durch Fragen, Fragen bis an die Ebene des „ich weis, dass ich nicht weis“ heran. Erst an diesem Punkt inneren Bewegens im Denken verwandelt sich die Aufmerksamkeit in ein Fischernetz. 

Was soll das nun wieder? Aufmerksamkeit und Fischernetz? Ja Fischernetz, denn erst wen ich meine Aufmerksamkeit wie ein Fischernetz still und leise in Wartestellung auswerfen kann und das in innerem Loslassen immer wieder, entfaltet mein Bewegen im Denken eine solchermassen dynamische Willenskraft aus sich heraus, dass sich diese Kraft gleichsam wie ein zarter silberner Faden um die Begriffe legt und diese so empfänglich werden für das Gewahren und Ausdrücken Können von höheren Geisteserkenntnissen. Die Aufmerksamkeit gestaltet sich um in ein inneres Fliessgeschehen und im Hinschauen auf dieses Fliessgeschehen erfahre ich bewegt in Bewegung den Willen als Kraftpotenz zunehmend umfassender in mir. Das ganze Spektrum eigener Willensverfestigungen wie bisher nicht ausgeschöpfter Willensmöglichkeiten wird sichtbar und befördert das Erwachen auf mein “Erkenne Dich Selbst“ hin, auf das was der Mensch im tiefsten Sinne ist. Ein Ich-Repräsentant des Geistes.

Damit komme ich auf Karl Ballmer und seinen Verweis auf „das historische Auftreten des wirklichen Ich“ zurück. Ich- Repräsentanz in individueller Vielfarbigkeit ist - blicke ich dabei auf das dadurch zu Tage tretende erwachende Bewusstsein für den je eigenen Willen hin, wie ich es oben skizzenhaft, in der Weise wie es mir heute möglich erschien, in wenigen Sätzen zu beschreiben versuchte - eine Herausforderung von historischem Ausmass. Sie kann nichts anderes als eine Sturmfront auslösen mit Blitzeinschlägen auf das jeweils individuelle „Erkenne Dich Selbst.“ Wo Freiheit aus individuellen Seelen heraus zum Wachsen kommen will kann dies nicht anders geschehen als über Sturmböen des Scheitern hinweg. Also über ein Scheitern, das in seiner schmerzvollen Tiefe den Humus bildet für zukünftiges Gelingen.

Nicht vernebelnd über das Scheitern hinweg zu gehen, sondern, anstatt Gift weiter nach aussen zu versprühen und Illusionen im eigenen Inneren zu pflegen, auf das eigene „Erkenne Dich Selbst“ mit allen daraus hervorgehenden Konsequenzen hinzublicken, dazu wollte Karl Ballmer zu seiner Zeit hinweisen. Den historischen Moment nicht zu verschlafen. Denn in die Tiefe reichende Veränderungen innerhalb grösserer oder kleinerer sozialer Kontexte lassen sich nur über Wandlungen, bezogen auf das eigene „Erkenne Dich Selbst“ auf den Weg bringen. Gestern wie heute und morgen.

© Bernhard Albrecht Hartmann 02.11.2020