Sonntag, 11. November 2018

Ein Verweis auf den Illusionsschleier dualistischer Strukturen

Reto Andrea Savoldelli
26. September 2018 um 18:23
"In aller Kürze melde ich mich nochmals mit einem Kommentar zu Eurem Gespräch zu Wort. Ihr werdet sehen, ob Ihr ihn berücksichtigen, d.h. mich einbeziehen könnt oder wollt. R.Steiner äussert in seiner Freiheitsphilosophie, dass das „allgemeine Ich“ sehr wohl in dem dem Denken zugänglichen Geistbereich zu finden, dass hingegen die Bildung des „Ich-Bewusstseins“ an die persönliche Organisation mit seiner Zeitraum-Limitierung gebunden sei.
„Genauer betrachtet muss das doch heissen, dass ich wenn ich „Ich“ sage, nicht in meinem Ich gegenwärtig bin, denn ansonsten müsste ich nicht nach dem wirklichen Ich fragen“, lese ich von Bernhard Albrecht. – Nun, genau so ist es! –
Da die Ich-Individualisierung sich allein in der Zeit und durch verschiedene Inkarnationen vollenden kann, lädt die Vertiefung der Frage „Was ist das wirkliche Ich?“ das allgemeine, höhere Ich in den persönlichen Bewusstseinsumkreis ein. Es wird insofern ausgeladen, als ich jenes mir nur als „abstrakt allgemeines“ vorzustellen mich genötigt sehe. Ich entgleite der prozesshaften Bildungsmacht des wirklichen Ich, wenn ich mit meinen zweifellos ichhaften Denkakten mich mit dem dabei auftretenden leibabhängigen Willenserlebnis zu begnügen suche. –
Wenn es die geistige Spannung zwischen „gewöhnlich selbstbewusst denkendem“ und „wirklichen“ Ich nicht gäbe, müsste man Rudolf Steiner einen grossen Vorwurf daraus machen, dass er seine Schüler mit einer Meditation wie der folgenden auf Erkenntnisabwege lockte (in seinem letzten Londoner Vortrag, 2.Sept.1923): «Ich schaue in die Finsternis. In ihr entsteht Licht, lebendes Licht. Wer ist dies Licht in der Finsternis? Ich bin es selbst in meiner wahren Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit des Ich tritt nicht ein in mein Erdendasein. Ich bin nur Bild davon. Ich werde es aber wiederfinden, wenn ich guten Willens für den Geist durch des Todes Pforte gegangen.»
Schönen Abend und gute Nacht!"
https://rolandwiese.com/2018/08/27/das-wirkliche-ich/comment-page-1/#comment-38
Lieber Reto Andrea
Leider ist mir Dein zweiter Kommentar innerhalb des Gespräches mit Roland bis heute entgangen. Er war wohl zum Zeitpunkt meiner Antwort (https://ich-quelle.blogspot.com/2018/09/nachtrag.html) auf Deinen ersten Kommentar hin von Roland noch nicht eingestellt, ansonsten wäre meine Antwort an Dich nicht nur auf Karl Ballmer bezogen geblieben. Wenn heute nach Deinem zweiten Kommentar auch schon mehr als sechs Wochen verstrichen sind, will ich mich dennoch darauf beziehen. Ich halte Deine Einlassungen nämlich für so wesentlich, dass ich sie unbedingt in den laufenden Gesprächsfaden mit Roland einbinden will.

Du schreibst, … „dass hingegen die Bildung des „Ich-Bewusstseins“ an die persönliche Organisation mit seiner Zeitraum-Limitierung gebunden sei.“
Womit wir im Zusammenhang mit der seelischen Beobachtung bei der Zurückdrängung des Leibes wären. Beim Aufräumen des eigenen Augias-Stalles nach der inneren Weisung, die ich mir aus meinem Beobachten zusprechen will. Aus der Spannung Interesse … Interesse und noch einmal Interesse, das Rudolf Steiner vor allem nach der Weihnachtstagung vehement einfordert (für den, der ernsthaft hinhören will), dem bedingungslosen Interesse für den anderen Menschen also einerseits und der Selbstkritik aus seelischem Beobachten heraus andererseits, aus dieser auszuhaltenden Spannung heraus kann sich Ich-Bewusstsein bilden. Diese Spannung ist also der Kern und gleicherweise der Keim aus dem Erwachen am anderen Menschen sich herausarbeitet zu einer wirklichkeitsgemässen Geistes Repräsentanz in heutiger Zeit.
Von daher gesehen ist auch ein Freies Geistesleben keine formale Struktur gesellschaftlicher Zusammenhänge, sondern es kann als fortlaufendes Arbeitsergebnis nur aus den Ich-Bewusstseins-Anstrengungen der in unterschiedlichen „Zeitraum-Limitierungen“ auf und auch gegeneinander bezogenen Menschen hervorgehen. Freies Geistesleben ist also alles andere als ein in der Empfindung mitunter subjektiv hochgepushtes Nirvana-Erleben (in dem Sinne: „wir“ sind Inselwächter seiner Realität). Es fusst vielmehr auf ernster täglicher Arbeit in den eigenen herakleischen Augias Ställen, was in zahlreichen dualistisch ausgetragenen „alltäglichen“ Auseinandersetzungen unter Menschen nicht selten vollkommen aus dem Blick gerät.
Aus meiner Sicht noch pointierter gesagt: Solange die zeitbedingte Grundspannung der Dualität heute noch vornehmlich „gegen“ den jeweils anderen Menschen ausgetragen und nicht als genuine Grundspannung meiner und nur meiner ureigenen zu bearbeitenden Entwicklungsspannung begriffen wird, solange können dringend notwendige Entwicklungen auf der Weltbühne wie in privaten Umräumen weiter nur zögerlich vorankommen. Im Kleinen  haben wir hier eine viel grössere „wirksame“ Verantwortung für das Ganze, als wir in innerem Stammtisch-Gebaren“ uns gegenüber zuzugestehen bereit sind. Der „Andere“ steht mehrheitlich im Fokus unser einschätzenden Betrachtungen und nicht ich. Der Andere und nicht meine ätherisch-astralische, bzw. meine in Denkblick und Denkwille gelenkten Innenprozesse einer  „notwendigen“ Entflechtung meiner Seelenkräfte und damit der Grundprozess der Zurückdrängung des Leibes.
Rückblickend auf das bisher Gesagte ein vielleicht notwendiger Einschub zur Klarstellung: Ich kritisiere hier weder Dich Reto noch sonst irgendeinen möglichen Leser dieser Zeilen, sondern ich erlaube mir lediglich ungeschminkt den Illusionsschleier über einigen heutigen allgemein zugänglichen inneren und äusseren menschlichen, wie welthaften Erscheinungsweisen etwas anzuheben, was in meinen Augen zu einer zeitgerechten Bewusstseinsarbeit unbedingt dazugehört. Wer will kann sich dem anschliessen und als Anregung aufnehmen eventuelle weitere individuelle Illusionsschleier für sich aufzudecken.
Du schreibst in Deinem Kommentar weiter: „Ich entgleite der prozesshaften Bildungsmacht des wirklichen Ich, wenn ich mit meinen zweifellos ichhaften Denkakten mich mit dem dabei auftretenden leibabhängigen Willenserlebnis zu begnügen suche.“ –
Dem will ich hinzufügen, dass Ich mich mit meinem leibabhängigen Willenserlebnis insoweit begnüge, wenn ich dieses als Bollwerk missbrauche für streitbare Dualität-Rangeleien um den Vorrang eigenen Vermeinens. Hat nicht Rudolf Steiner immer wieder und besonders eindringlich in den letzten beiden Lebensjahren darauf hingewiesen, dass alle Vorstellungen zu verbrennen seien? Ich will das Beharren in Vorstellungen hier einmal bildschaffend als den weit ausgreifenden und letztlich todbringenden Arm von Ich-Bewusstseinsbildung benennen. Abwegig? Oder tiefer betrachtet ins Zentrum treffend?
Um der möglichen Auflösung dieser Frage ein wenig näher treten zu können will ich an das von Dir benannte Zitat Rudolf Steiners in seinem Londoner Vortrag vom 02.09.1923 anknüpfen. „ «Ich schaue in die Finsternis. In ihr entsteht Licht, lebendes Licht. Wer ist dies Licht in der Finsternis? Ich bin es selbst in meiner wahren Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit des Ich tritt nicht ein in mein Erdendasein. Ich bin nur Bild davon. Ich werde es aber wiederfinden, wenn ich guten Willens für den Geist durch des Todes Pforte gegangen.“
Wenn ich mich dem Verbrennen, dem tatsächlichen Veraschen von Vorstellungen wirklich entschiedener zuwende, was ein sehr langer sich fortlaufend vertiefender Prozess ist, dann bringt mich dies in einen inneren Zustand, dass mehr und mehr Haltestangen meines bisherigen Selbstgefühls weg brechen. Ich schaue im Sinne Rudolf Steiners buchstäblich in die Finsternis, sehe mich vor ein Nichts gestellt, dass mich wie aufzusaugen droht. Das dahin gehende Erleben kann dabei so bedrängend über mich herfallen, dass ich die Flucht nach rückwärts antrete, um  für mich wieder an diversen Vorstellungen Halt zu finden.
Da solches heute auch mehr unbewusst im Alltag begleitend geschehen kann ist es verständlich, wenn in sozialen Auseinandersetzungen nicht selten geradezu verbissen um die Erhaltung des eigenen Standpunkt gekämpft, bzw. in bestimmten Internet Foren sogar ein „sportlicher“ Hashtag betrieben wird einzelnen Teilnehmern in einer unbewussten Gegenbewegung alle Haltestangen wegzunehmen. Geistige Dunkelheit ist bei der heutigen äusseren Lichtüberflutung und Informations-Überreizung etwas, was in der einen oder anderen Weise nicht so einfach auszuhalten ist und deshalb auf jede nur denkbare Weise übertüncht und übertönt wird.
Weiter: „In ihr (der Finsternis) entsteht Licht, lebendes Licht.“ So ein derartiges Erfahren nicht in oder nach krisenhaften Lebensereignissen eintritt, dann kann dieses Lichterleben innerhalb eines fortgeschritteneren beweglichen Denken eintreten. Das individuelle Ich kann im Verlauf derartigen Erlebens gewissermassen leise hervortreten und mit der Zeit zu einem Brennpunkt unmittelbar geistigen Erfahrens werden, eines Erfahrens das in seiner um sich greifenden Dynamik umso eher zentriert gehalten werden kann, je stärker das Denken gleichlaufend weiter ausgebildet und in sich vertieft wird. Es ist dies ein Prozess, der mit aller gebotenen Zurückhaltung im Bilde einer Brückenüberquerung, im sokratischen Sinne eines „Durchgangs“ durch das „ich weis, dass ich nicht weis,“ andeutend zu beschreiben ist.
Brückenüberquerung: Setze ich mich damit im Sinne des oben genannten Londoner Vortrags von Rudolf Steiner nicht in einen Widerspruch zu ihm? Heisst es doch dort: „Diese Wirklichkeit des Ich tritt nicht ein in mein Erdendasein. Ich bin nur Bild davon.“ Es steht dort aber auch zu lesen, dass ich dieses Ich „wiederfinden (werde), wenn ich guten Willens für den Geist durch die Pforte des Todes gegangen.“ Wer dies lauschend liesst, dem kann in der inneren Anschauung ein Bogen, eine Brücke vor Augen treten, die empfindungsstark beide Satzsequenzen überspannt.  Zwischen beiden tritt nämlich im oben skizzierten Sinne ein markantes Todes-Erleben oder eine ganze Kette von inneren Todes-Empfindungen ein, die sich über den Zeitraum ihres Erlebens zu einem Gesamterleben bündeln. Im Sinne von Angelus Silesius tritt hier also zu Lebzeiten der Tod ein („Wer nicht stirbt bevor er stirbt, der verdirbt“). Mit diesem Todes-Erleben werde ich in Folge dahin geführt das eigene Ich in meinem Erdenleben immer wirksamer finden zu können. Das Ich wird zu einer Leben spendenden Quelle.

Bernhard Albrecht