Montag, 4. September 2023

Post-prometheischer Umgang mit dem Feuer - Die Eröffnung des dynamischen Frageraums

Peter Sloterdijk spricht in seinem neuen Buch: „Die Reue des Prometheus …“(1) in Bezug auf den Menschen von einem „Kollektiv von Brandstiftern.“ Rudolf Steiner erinnert in seinem Werk immer wieder an die Notwendigkeit, dass alle Vorstellungen im Hinblick auf die neue Zeit „verbrannt“ werde müssten. Zwei Protagonisten die von unterschiedlichen Blickpunkten aus einen neuen Umgang mit dem Feuerprinzip eindringlich anmahnen.

Vorstellungen tragen ganz gleich in welcher Hinsicht ein ungemein starkes Beharren auf die in ihnen sich abbildende Sichtweise in sich. Sie verändern sich aus sich selbst heraus nicht, wenn nicht Einsicht sie neue Wege leitet, Einsicht gegründet in einem mehr oder weniger tief reichenden Erkenntnisverhalten und der daran sich anschliessenden individuellen Erlebnisweise. Einsichten, die von aussen Veränderungen im menschlichen Verhalten anstossen, im Extremfall den Menschen auch aufnötigen und Einsichten, die in Erkenntnisarbeit zu einer inneren Umkehr und damit individuellen Verantwortungsübernahme führen.

Verantwortung gebiert sich aus Fragen, Fragen nach den tieferen Wirkzusammenhängen in denen ich lebe, Fragen nach dem Grund auf dem ich stehe und von dem ich mein Gehen in die Welt hinein bestimme - selbst bestimme. Fragen nach den Indikatoren in meinem Leben, die mich daran hindern weiterzuschreiten, mit wachsender Aufmerksamkeit dann aber auch von Augenblick zu Augenblick fortschreiten lassen. Fragen, welche zu Erfahrungen führen, die mich in meinem Erleben aufmerksam geführter Selbstbestimmung am Ende so mancher Tage bestärken. Fragen, die in Zeiten des Scheitern meiner vorwärtshaltig ausgerichteten Bemühungen mich umkehren und neu beginnen lassen, Fragen, die ein letztgültiges Einknicken nicht zulassen, sondern mich zu jedem Zeitpunkt wieder aufstehen lassen. Das Fragen also als das Lebenselement, das meine Individualisierung voranbringt, was heisst mich in Tateinheit nachhaltig freiheitsfähig in der Welt stehen lässt.

Dieses Fragen hat wohl als Erster Sokrates öffentlich auf die Strasse gebracht und war damit den selbsternannten Mysterien Wächtern seiner Zeit von Anfang an ein Dorn im Auge. Fragen und hinterfragen ist also gefährlich, das muss ein jeder wissen, der (auch heute) den Weg des Sokrates gehen will, denn dieser Weg führt konsequent gegangen in die Urtiefe möglicher Erfahrung von Freiheit hinein - von Freiheit, die den Tod einschliesst und gleichzeitig überwindet. Sokrates hat Aug in Auge mit den Mysterien Wächtern den Giftbecher genommen und ausgetrunken. Er hat ihn ausgetrunken obwohl er hätte fliehen können. Denn in seinen Augen war und ist Freiheit bis heute ein Menschengut für das in jeder nur denkbaren Weise (ob im Verborgenen oder offen) eingestanden werden muss, will ich die eigene Lebensessenz nicht verraten. Denn Verrat ist in den Augen von Dante Alighieri die einzig wirkliche Sünde. 

Die einzige wirkliche Sünde: Die Sünde, die nicht dafür geeignet ist, dass sie vor religiösen Autoritäten einfach so zu beichten wäre, sondern weil einem jeden Menschen tagtäglich widerfahrend nur selbstverantwortlich von ihm her bereinigt werden kann. Es ist die Sünde des masslosen Anhaften, des nicht über sich Hinaus-Schreiten Können. Es ist die Treulosigkeit gegenüber sich selbst. Denn Treue manifestiert sich in fortlaufend innerer Bewegung. 

Das Ich sprengt den Käfig des Ego und darinnen alle, selbst die vor sich selbst verborgen gehaltenen, nicht aufgelösten Ängste. Das Ich muss keine Art von Angeleuchtet-Werden fürchten. Es ist, weil in sich licht, zu Metanoia fähig. Peter Sloterdijk und Rudolf Steiner sind vor der heutigen Weltlage  beide in einzigartiger Weise echte Behüter des Feuers und damit Willensträger. Sie beleuchten ohne zu blenden.

© Bernhard Albrecht Hartmann,04.09.2023

(1)  Peter Sloterdijk - Die Reue des Prometheus - Von der Gabe des Feuers          

      zur globalen Brandstiftung, Suhrkamp Verlag Sonderdruck 2023