Sonntag, 13. März 2022

Die innere Haltung der leeren Hand

Auf was lasse ich mich mit diesem Titel schreibend wie lesend ein: „Die innere Haltung der leeren Hand?“ Was bedeutet das, mit was habe ich es zu tun, wenn ich hier von der inneren Haltung der leeren Hand zu sprechen versuche?

Haltung … innere Haltung … innere Haltung der leeren Hand: Haltung hat etwas mit Aufrechte zu tun, innere Haltung mit Abgrenzung nach innen wie gleicherweise nach aussen, innere Haltung der leeren Hand bringt Offenheit und Unvoreingenommenheit ohne wenn und aber zum .Ausdruck. Drei grosse und von daher herausfordernde Ausdrucksweisen seelischen Verhaltens also. Aufrechte, Abgrenzung und Offenheit. Mit den beiden ersteren Charakterisierungen der Aufrechte und Abgrenzung kann ich mich rückbesinnend unmittelbar identifizieren, nicht aber mit der dritten, also letzten Charakterisierung. Da scheint mir über die genannte Offenheit im betrachtenden Verstehen hinaus etwas noch nicht erfasst zu sein. 

Gewiss die ausgestreckte Hand kann Offenheit ausdrücken, auf was weist in diesem Zusammenhang jedoch die explizit so benannte „leere“ Hand? Die ausgestreckte Hand, die zugleich leer erscheint, ist dies nicht ein Widerspruch in sich? Die „ausgestreckte“ Hand, die nichts enthält, also von Angesicht zu Angesicht im aufeinander Zugehen leer erscheint … ? Auf was werde ich da gleichsam hingestossen, wenn ich im Hinschauen auf die leere Hand, im Ergründen der Leere, die mich anweht, wenn ich die leere Hand erlebend in mein Betrachten aufnehme, sie also nicht zurückweise weil sie leer ist oder gar an ihr vorübergehe? Sie, die leere Hand mithin als Tatsache ernst nehme und … in ihrem besonderen Ausdruck zu verstehen trachte?

Die leere Hand als untergründige Willens- und Herzgebärde: Die leere Hand als vorurteilsfreie, mithin von berechnend hintergründigen Interessen freibleibende ausgestreckte Hand. … Die Willenshaltung zum Ausdruck bringend, welche weit über das landläufig offenherzige aufeinander Zugehen und Händeschütteln hinausgeht. Eine Willensgeste nicht nur vordergründig diplomatischer Offenheit, sondern die Geste, die gepaart mit dem in die Weite und Tiefe reichenden umfassend menschlichen Interesse … und der „allseitig“ schöpferischer Lösungs- wie Tatbereitschaft einhergeht. 

Die Willensgeste, die zumindest den Menschen in Europa von heute an tagtäglich zunehmend unmissverständlicher eine innerlich selbstverantwortete oder von aussen her angeordnete Haltungsumkehr auf Neulande hin abverlangen wird. Denn anders werden wir die Ansage einer „Zeitenwende,“ die sich untergründig schon mindestens einhundert Jahre anzeigte und die seit wenigen Tagen in der Ukrainekrise nunmehr offen zu Tage tritt weder als einzelne Individuen noch im staatlichen Gemeinwesen Verbund bewältigen können.


Intermezzo. Ich greife auf ein eigenes biographisches Erleben zurück. !985 begegnete ich in einem längeren Gespräch der Witwe des Malers Gerhard Reisch. Sie schlug im Anschluss daran eine Mappe mit verschiedenen Entwürfen ihres Mannes auf, blätterte ein wenig darin und reichte mir daraus als Geschenk einen kleinen unscheinbaren Linoldruck. Dieses Bild brachte in seiner Schlichtheit eine stille Kraft und Entschlossenheit zum Ausdruck, die mich über die Jahre, ohne dass ich das Bild jeweils erneut direkt betrachten musste, auf meinem Lebensweg begleitete. Es prägte von innen her mein weiteres Dasein. Abgebildet war der Erzengel Michael, gestützt auf sein Schwert stehend an der Seite eines felsigen Hügels. Blickend auf ein weites Feld kriegerischer Zerstörungen.


Heute stehen wir in Europa und weltweit nun von einem Tag auf den anderen vor ungeheuerlichen kriegerischen Zerstörungen angesichts einer völkerrechtswidrigen Invasion in die Ukraine durch Vladimir Putin. Was bedeutet das über die umfänglich in Gang gesetzten Hilfsinitiativen für die Ukraine hinaus für unser aller Selbst- und Menschenverständnis? Sind wir bereit uns auch nur ein wenig über den Horizont unseres weltweit Vernetzt-Seins im Internet hinaus zu bewegen? Können wir sehen, dass über viele Facebook Scheinfreundschaften hinweg unser aller Seelenleben einen Einfluss auf das Weltgeschehen hat, dass wir also nicht nur in einem von vielen Zwängen geleiteten Sozialgefüge leben, sondern in einem allseitig gestaltbaren geistig seelischen sozialen Kräfteorganismus? 

Wenn wir das tiefer anfangen zu sehen, dann ergibt sich daraus in der Konsequenz eine viel grössere Verantwortung nicht nur für das politische Establishment, sondern für uns alle. Folgt dem gegenwärtigen Umdenken in der Politik über die anfängliche Hilfsbereitschaft für die Flüchtlinge aus der Ukraine hinaus ein weiter reichender Haltungswandel unter den Bürgern? Wollen wir also zulassen dass am Ende wieder die vergänglichen Informationsfluten, die sich über unsere Fernsehschirme in unterschiedlicher Weise manipulativ entfesselt verbreitet haben eimal mehr uns "einfach so" überrollten? … Oder ist die Wirklichkeit der Zeitenwende, unser aller Entscheidung. Wer bin ich und was will ich von daher nachhaltig beitragen zu Frieden und Menschsein? „Zeitenwende“ wirksam ernstgenommen ist in meinen Augen jedenfalls kein Spaziergang.

An dieser Stelle tritt mir das Bild Johannes des Täufers bei der Jordan Taufe innerlich vor Augen. Nicht aber als ein Bild mit historisch religiösem Hintergrund, sondern vielmehr als ein gegenwärtiges Ereignen, in dem wir alle gleichsam durch ein Bad der Reinigung von vielen Illusionen schreiten. Die kommende Zeit wird uns innerhalb dieses Prozesses aus meiner Sicht noch einiges mehr als uns lieb sein wird abverlangen. Metanoia auf allen Ebenen. Das heisst in Konsequenz erkenne dich selbst im Prozess eigener Willenserweckung. 

Damit komme ich zurück auf die innere Haltung der leeren Hand. Sie ist im Grunde der Ausdruck des sich ins Nirgendwo stellen. Ist von dort her die Herausforderung selbstverantwortete Wegfindung anzunehmen. Ist mit der Angst das Fürchten zu lernen, weil alle Ego Anhaftungen und somit Sicherheiten, sprich Haltestangen hier fallen. Ist Ich-Geburt durch zu gestaltenden ethischen Individualismus im eigenen Willen. Ins Nirgendwo … stellen: Im Sinne des Sokrates heisst das mich denkend hindurch bewegen durch den Frageraum des  „ich weiss dass ich nicht weiss,“ mich schmerzhaft auseinanderzusetzen mit all seinen Aspekten, Angst und Bodenlosigkeit, Furcht und Dunkelheit, um am Ende die Halt gebende Leine durch das Ego preiszugeben und die Erfahrung einer wachsenden Gestaltungskraft im dynamischen Fortgang auf neue Bewusstseinsstrukturen hin annehmen zu lernen. 

Die Ukraine Flüchtlinge werden durch Bomben, die ihre Häuser zerstören ins Nirgendwo geschleudert, von einem Augenblick auf den anderen gefordert in tausend folgenden Augenblicken am Rande des Nichts neue unbekannte Wege zu finden; der aktiv Selbsterkenntnis Suchende lernt auf seinem Weg Dualität nicht länger gegen seine Weggenossen einzusetzen, bzw. auf sein gesellschaftliches Umfeld zu projizieren. Er lernt aus seinen Erfahrungen vielmehr die Spannungen von Sympathie und Antipathie, das unvermittelt herauf drängende Chaos der eigenen seelischen Unterwelt immer mehr allein in sich aufzulösen anstatt in endlosen Streithaltungen weiterzuschleppen. Die Geschichte von einem der auszog das Fürchten zu lernen ist die Geschichte der von innen her leeren Hand, die Geschichte vom leeren Willen angesichts des  N - ich - ts, also der Auflösung meiner Fragen des „weiss ich dass ich nicht weiss.“ Die Geschichte von einem der auszog das Fürchten zu lernen ist die Geschichte von einem jeden von uns in seiner individuellen Einzigartigkeit auf diesem Weg hineinzufinden in das Ich-Erwachen und darin mehr und mehr einzugehen in die zeitgemässe Erfahrung lebendiger Geistesfülle.

© 13. 03. 2022 Bernhard Albrecht Hartmann