Freitag, 1. September 2017

Mitgefühl

Er geht auf die Menschen zu, will Land und Leute kennen lernen, ihre Kultur, ihre Verschlossenheit und ihr Lächeln, ihre Sprache sich aneignen - auf seinem Weg beinahe 1500 km kreuz und quer durch die Schweiz. Erstaunlich wie gut er sich bereits ausdrücken kann, auch wenn er immer wieder einmal das passende Wort sucht, um sich verständlich zu machen, wo er doch erst ein halbes Jahr im Land ist. Seine Offenheit, seine Freude an kleinen Dingen, sein so unmittelbar Staunen-Können scheinen die Menschen anzuziehen, denen er begegnet.
Bei befreundeten Menschen unsererseits zu Besuch begegnen wir einander. Unsere Gastgeberin hat aus der Presse von seiner Wanderung durch die Schweiz gehört, über sein Asylanten Wohnheim Kontakt mit ihm aufgenommen und ihn auf seinem Wanderweg für eine Nacht zu sich auf den Bauernhof, auf dem sie mit ihrem Mann lebt, eingeladen. So sitzen wir jetzt also alle zusammen um einen grossen Tisch und essen und lachen miteinander. Sein Wissensdurst ist gross, ihn interessiert so viel. Abweisung, der er auf seinem Weg auch begegnet, Verstocktheit und Vorurteil quittiert er mit einem Lächeln oder übersieht es einfach. Die Menschen sind so und ich bin so anders. Es ist schwierig Grenzen zu überschreiten. Ich weis es. Schon die Grenzwächter an den äusseren Grenzen können einem in Angst und Panik versetzen. Wie steht es da erst um die inneren Grenzwächter. Ich muss Geduld haben und weiter vertrauen.
Wenn ich dieses mir eingeborene Vertrauen nicht gehabt hätte, ich wäre nicht hier. Mit meiner Frau auf der Flucht vor den Warhols, zu Fuss von Afghanistan. Die eineinhalbjährige Tochter auf dem Arm und je einem Rucksack auf unser beide Rücken, sowie einem aufgeschnallten Leichtzelt, so sind wir hier angekommen. Schaue ich zurück, ich weis nicht wie wir das geschafft haben.  Den Sandsturm in der iranischen Wüste, das beinahe Ertrinken von uns allen dreien in der Ägäis … 
Meinen Bruder, der mit uns floh, hat wohl die iranische Polizei verhaftet. Eines morgens stiess er aus seinem Versteck nahe der Strasse durch den Iran nicht mehr zu uns. Die Gefängnisse dort sind grauenhaft. Afghanische Flüchtlinge werden regelmässig zu Tode gefoltert. Doch davon spricht hier niemand. Wir sind nicht selten einfach nur Wirtschaftsflüchtlinge, nicht einmal Kriegsflüchtlinge. Doch dass wir zuallererst um unserer Freiheit und Würde geflohen sind, das wird übersehen.
Europa, die Schweiz nennt sich frei. Haben die Menschen hier noch Kontakt zu ihrer Freiheit? Wissen sie, dass Würde etwas ist, das ein Mensch unter keinen Umständen preisgeben darf?
Er schaut mich an während diese knapp gehaltene Geschichte beinahe verschämt aus seinem Mund wie tröpfelt. Ich werde hier Fuss fassen. Das bin ich meinen Eltern schuldig, die Freiheit und Würde so tief in mir eingepflanzt haben, meinem Bruder, der uns bei seiner nächtlichen Verhaftung nicht verraten hat. Wir Afghanen sind ein stolzes Volk. Wir haben allermeist unsere Frauen nicht weggesperrt und unter den Schleier gezwungen. In den Bergen lebend gaben sie uns nach unser harten Tagesarbeit Wärme und inneren Halt den Kampf um unser Überleben nicht aufzugeben. Dabei schaut er seine Frau und sie ihn an. Ihrer beide Augen sagen alles.
Erst als Khomeini sich im Iran festsetzte schwappte immer mehr ein dunkler Nebel auch über unser Land. Der Fanatismus spaltete die afghanischen Bergvölker untereinander. Dort wo bisher Freiheit und Würde das Leben zusammenhielt, zog Angst und Hinterhältigkeit ein.
Die Schweiz hat so prachtvolle Berglandschaften, die eine solche Kraft ausstrahlen, sind seine letzten Worte, bevor wir uns von ihm verabschieden.

Bernhard Albrecht