Montag, 31. Juli 2023

Geh Deinen Weg

Geh Deinen Weg. Leichter gesagt als getan, so mag der eine oder andere angesichts dieser Ansage bei sich denken. Denn: Was ist mein Weg? Ist das der Weg den ich täglich in meinem Alltag mit seinen weitgehend voraussehbaren Arbeitsabläufen durchschreite - strebsam, pflichtbewusst, fürsorglich, führungsstark, mutig usw. - oder liegt „meinem“ Weg eine zu erfragende tiefere Dimension zu Grunde? 

Klappe/Schnitt: „Wer nicht stirbt bevor er stirbt der verdirbt.“ (1) Wie das?

Den eigenen Weg gehen schliesst so betrachtet die Auseinandersetzung mit dem ein was ich nicht selten unbemerkt an Schicksalsgepäck durch  mein Leben quasi mitschleppe, bis ich am Du erwachend erinnere was hier zu bearbeiten, zu verwandeln und aufzulösen ist. Das bedeutet unter anderem sich mit eigenen Illusionen auseinander zu setzen, die jeden Weg auf die ein oder andere Weise, nicht selten auch aufreibend begrenzen. Doch sind es gerade sie, die Illusionen, die mit der inneren Aufdeckung nach und nach mehr in die Spur - des eigenen Weges führen. Kurz gesagt: Ohne Toderfahrung kein eigener Weg. 

Die aktiv herbeigeführte Desillusionierung und der damit verbundene Weg hinein in das Dunkel selbstverantworteter Wegfindung, das Erfahren je eigendynamisch erwirkter Denkerfahrung, über Gedanken Karussell Sensationsfahrten oder seelische Festhalte Prozesse welcher Art auch immer hinaus  als Erntegeschenk im Sinne des Sokrates durchgestandener „ich weis, dass ich nicht weis“ Bedrängnisse. Wenn ich wirklich wissen will, was Sache ist, dann ist Desillusionierung ein steiler Weg über Abgründe hinweg. Ein Weg des Loslassens, der schwer fällt, weil von innen her mich so etwas wie eine Fata Morgana umweht ich würde dadurch jeglichen Boden unter meinen Füssen verlieren.

Dem aber ist nicht so. Denn die eigene Erfahrung kann mich lehren, dass dann wenn ich in inneren Seelenprozessen vermeintlich jeden Halt verliere und dem Anschein nach ins Nichts hinein abzustürzen drohe, ich tatsächlich in eine tiefere Krafterfahrung meiner selbst hinein aufwache. In Augenblicken wo Illusionen mehr und mehr zerfallen und ich dies still zulassen kann geschieht nämlich auf der anderen Seite dieses; in meiner Seele greift die Erfahrung erst still und zunächst eher leise, im Laufe der Zeit aber immer gegenwärtiger werdend um sich, dass ich in die Kraft meines eigenen Denkens hinein erwache. Wenn ich also den Tod gewisser Illusionen und mit ihnen den Zerfall von Ego basierten Seelenstrukturen vor Augen in mir durchlaufe, ich tiefer angeschaut mehr und mehr die Auferstehung eines mich allseitig tragenden eigenständigen Denkens erfahre. Ein Denken aus dem ich nicht herausfallen kann - nicht einmal in einer lebensbedrohlichen Krise.

Auf dieses eigenständige Denkerfahren von Freiheit Erleben kann keine Macht der Welt zugreifen. Die Freiheitlichen Grundrechte eines Staatswesens dienen also im Grunde dazu, dass seine Bürger in diesem äusseren Raum die Möglichkeit ergreifen die Freiheit tief innen im eigenen Denken zu entwickeln. Tun sie das der Tendenz nach eher zu wenig und die tiefen Risse, die sich in unseren Sozialsystemen vielerorten gegenwärtig immer deutlicher zeigen lassen die starke Vermutung in dieser Richtung zu, so hat das Auswirkungen auf die allseitig ausgewogene Arbeit der politischen Organe - und den Umgang seiner Bürger untereinander. Der redliche Konsens bleibt in Debatten, Diskussionen und Dialogen auf der Strecke. Der Hashtag, die hartnäckige Unterstellung und beiläufige Verdrehung schieben sich immer unmittelbarer in Auseinandersetzungen nach vorne und das echte Gespräch über ein wechselseitiges durchgehendes Respektieren wird in Stoppstrassen abgedrängt. Die grösste Furcht scheint - ernsthaft sich vor Augen gerückt - die Sille zu sein und von dort her das Annehmen der Tragfähigkeit eigentätig entwickelter Denkkraft.

Quintessenz: Nichts fürchtet heute anscheinend der Mensch mehr als auf eigene Füsse sich gestellt zu sehen und damit in der rundum Selbstverantwortung zurecht finden zu müssen. Das Anhaften an dieser oder jener Lehrpersönlichkeit, bzw. einem dem Anschein nach meisterlichen Guru wird zum tödlichen Fallbeil für die eigenständige spirituelle Entwicklung, welche die Zeichen der Zeit, für den der nicht über diverse Anzeichen hinweg schauen will, heute einfordern. 

Geh Deinen Weg bedeutet somit: Fasse Mut und stell Dich auf Deine eigenen Beine. Das Fragen des Sokrates erweist sich dabei mehr als eine Krücke. Fragen in das „ich weis, dass ich nicht weis“  hinein öffnet den Mutigen die Quelle unendlicher schöpferischer Kraft aus dem Nirgendwo. Das Nichts im Durchgang durch das Nirgendwo wandelt sich in der Erfahrung zum Geburtsprozess des Ich. Von den Zargen seiner Ego Anhaftungen befreit findet der Mensch - die eisernen Bande des treuen Johannes sprengend (2) seinen Weg. Der Vogel Phönix fliegt.

© Bernhard Albrecht Hartmann, 31.07.2023

(1)   Angelus Silesius

(2)   Das Märchen vom Froschkönig